302 - Wo der Wahnsinn regiert
Träumen auf. Irgendetwas hatte sie geweckt. Ein Geräusch vielleicht, oder ein Windzug. Angestrengt sah sie in die Dunkelheit des Prachtzimmers. Ihr Körper war sprungbereit gespannt und ihre Faust geballt. »Ist da jemand?«, fragte sie laut.
Ein Schatten bewegte sich und kam auf sie zu. Xij wollte die Beine aus dem Bett schwingen, fühlte sich aber zu schwach und schwindelig. Ihre Lunge schmerzte.
Sie griff nach ihrem Nadler, der an der Wand an der Seite der Matratze lag, doch sie zögerte zu schießen. Im schwach einfallenden Mondlicht sah sie eine Gestalt, die am Bett innehielt und keine Anstalten machte, sie anzugreifen.
Vor ihr stand ein Mann mit Kapuze. Seine Umrisse kamen ihr bekannt vor. Sie hatte ihn bereits gesehen. Dieses Mal trug er kein Tablett. Seine Stimme klang, als seien seine Stimmbänder mit Draht durchzogen.
»Seht zu, dass ihr verschwindet«, zischte er in gebrochenem Deutsch in ihre Richtung. »Rudowigu wird euch nur benutzen. Geht, solange ihr es noch könnt.«
»Was soll das heißen?« Xijs Schwindel verstärkte sich und sie war nicht sicher, ob sie wach war oder träumte. Gab es doch auch in ihren Träumen Männer mit Kapuzen, Mönche und dunkle Bedrohungen. »Was hat Rudowigu vor?«
»Ist es wirklich wichtig, was er tun will? Wäre es nicht interessanter zu erfahren, was er bereits getan hat ?«
Der Mann trat näher und hob die Kapuze vom Kopf. Xij starrte ihn an. In einer spontanen Geste streckte sie die Hand aus, zog sie aber gleich wieder zurück. »Was...«, flüsterte sie entsetzt, als der Schwindel größer wurde. Sie sackte schwer atmend zurück in die Kissen. Das grausige Bild vor ihr wollte nicht weichen. Ihre Ohren rauschten und sie spürte, wie sie wegglitt.
Sie musste sich merken, was eben geschehen war, was sie gesehen hatte. Sie musste mit Matt darüber reden. Sie musste... was musste sie noch...? Ihre Gedanken fanden keinen Fokus. Die Schatten begannen sich zu drehen und der Mann am Bett war verschwunden. War er überhaupt da gewesen?
Nein. Sie musste schlafen. Das waren nur Träume, furchtbare Albträume, die sie in letzter Zeit ständig heimsuchten. Nur eine dunkle Vision mehr, während ihrer Anfälle.
Als sie später in der Nacht ein zweites Mal erwachte, war das Zimmer leer. Den sonderbaren Vorfall schrieb sie ihren Träumen zu.
Es sollten noch viele hässliche Traumbilder und Schwächeanfälle folgen, ehe der Morgen kam. Der Mann mit der Kapuze und dem grausigen Geheimnis darunter geriet mehr und mehr in Vergessenheit.
Am nächsten Tag war Matt überrascht, wie lange er geschlafen hatte. Das Bett war ungewohnt weich und bequemer als sein beengtes Lager im Panzer. Er streckte sich ausgiebig und trat an das Fenster. Vor ihm lag das Tal mit mehreren Seen und hohen Bäumen, die bläulicher wirkten als die Bäume aus seiner Zeit. Sie ragten weit in den Himmel hinauf und waren doch von seiner Position auf dem steilen Felsen nur Miniaturspielzeug.
Stefaan holte ihn und Xij ab, nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatten. Er brachte die beiden erneut in den Saal mit den beiden Wächterschwänen.
Rudowigu saß auf seinem Thron und sah ihnen erwartungsvoll entgegen. Stefaan blieb wie eine Anstandsdame bei ihnen stehen und überließ Xij das Übersetzen.
»Ich habe mir überlegt, was ich für meine Hilfe in diesem speziellen Fall haben möchte«, sagte der König. »Gestern habt ihr eine Frau getroffen, ihr Name ist Yuna. Sie ist mir sehr wichtig und eine meiner ältesten Vertrauten. Wie ich bereits sagte, wurde ihre Tochter von Barbaren des Lupa-Clans verschleppt. Sie befand sich auf dem Rückweg zum Schloss, aber sie hat es nie erreicht.«
Der König winkte Stefaan heran, und der Mann, der ein rosafarbenes Obergewand mit floralem Muster trug, machte sich mit ängstlichen Blicken nach links und rechts auf den Weg zwischen den Swaans hindurch. Er brachte ihnen die Fotografie eines vielleicht fünfzehnjährigen, glatzköpfigen Mädchens.
Matt musste sich ein Grinsen verkneifen, als ihm in den Sinn kam, dass die Japaner ausgerechnet die Fotografie in die Zeit nach »Christopher-Floyd« gerettet hatten. Er erinnerte sich noch gut an die Touristenhorden aus China und Japan mit obligatorisch umgehängten Kameras, die Neuschwanstein belagerten.
Sein Blick fiel auf das breite, aber trotzdem hübsche Gesicht des Mädchens, und wieder wurden Erinnerungen an Ann wach, die seinen Anflug von Humor auslöschten. Seine Tochter würde dieses Alter nie erreichen.
»Das ist
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