Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
306 - Ein Hort des Wissens

306 - Ein Hort des Wissens

Titel: 306 - Ein Hort des Wissens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
Vom Netzwerk:
erwärmen.
    »Wieso das?« Sie runzelte die Brauen.
    »Ich werde eine kleine Bunkerstadt unter der Burg bauen«, erklärte Rulfan. Jenny für irgendeine Art von Zukunft zu interessieren, schien ihm schon ein Riesenschritt in Richtung seelischer Genesung zu sein. »Alles technische und kulturelle Wissen, das in der Menschheit noch wach ist, will ich dort bündeln. ›Hort des Wissens‹ – so nenne ich das Projekt bis jetzt.«
    »Pieroo erwähnte es. Ich erinnere mich.« Jenny sah wieder auf die Ostsee hinaus. Die Küste war längst nicht mehr zu erkennen. »Wie um alles in der Welt sollte ausgerechnet eine wie ich dir bei so einem ehrgeizigen Projekt von Nutzen sein.« Das klang nicht wie eine Frage, das klang wie eine Feststellung.
    »Du kennst die Ruinen Berlins, warst Königin der Amazonen dort. Und vor dem Kometeneinschlag hast du in der Stadt als Kampfpilotin eines großen Kriegsheeres gearbeitet. Maddrax hat mir oft davon erzählt. Du kennst die Kultur der Alten nicht nur aus eigener Erfahrung, bist sogar eine von ihnen. Du hast vor ›Christopher-Floyd‹ eine Schule und eine Universität besucht. Keiner ist so geeignet für mein Projekt, wie du.«
    »Du übertreibst«, sagte Jenny müde. »Die überlebenden Technos wissen mehr als ich, können mehr als ich. Und dann ist da ja auch noch Matt.«
    »Maddrax? Wo ist er denn?« Rulfan machte eine Geste des Bedauerns. »Weg ist er.«
    Sie blickten zum Horizont und schwiegen eine Zeitlang. Irgendwann stieß Jenny ein bitteres Lachen aus. »Berlin...« Sie schüttelte den Kopf. »Und dann der lange Weg von London nach Corkaich. Es waren harte Jahre, seit ich mit Dave McKenzie in deiner Zeit und deiner Welt gestrandet bin, Rulfan – hammerharte Jahre. Wenn du wüsstest, wie oft ich verzweifelt war in dieser postapokalyptischen Welt, wie oft ich mich nach Ruhe gesehnt habe, nach dem Tod. Nur weil Ann da war, bin ich geblieben. Dass Ann da war, gab meinem Leben einen Sinn.«
    Sie wandte den Blick zum Bug und deutete mit einer knappen Kopfbewegung zum eingezogenen Anker, den man dort sehen konnte. »Ann war der Anker, der mich im Leben festgehalten hat. Und nun ist dieser Anker abgerissen und verloren gegangen.«
    Einige Atemzüge lang lehnten sie wieder schweigend über der Reling. Und Rulfan suchte wieder nach Worten. Er fand aber keine, spürte nur, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Fast war er dankbar, als jemand vom Ruderhaus aus seinen Namen rief.
    Er drehte sich um. Tsuyoshi stand dort oben und winkte. »Hier ist eine Frage zum Kurs aufgetaucht, Rulfan. Könnten Sie mal eben zu uns hoch kommen?«
    »Fünf Minuten, ja?« Rulfan streckte die fünf Finger seiner Hand hoch.
    Plötzlich packte Tsuyoshi den Relingholm und ging leicht in die Knie. »Achtung!«, schrie er. Der Marsianer fuchtelte aufgeregt mit der Rechten, deutete schließlich auf Rulfan. »Die Frau!«
    Rulfan fuhr zu Jenny herum, jedenfalls zu der Stelle, an der sie eben noch an der Reling gestanden hatte. Jetzt stand dort niemand mehr. Er beugte sich über die Reling, starrte in die Wogen, sah einen Blondschopf tief unten ein paar Schritte von der Bordwand entfernt. »Jenny!« Sie schwamm, aber sie schwamm von der Bordwand weg. Eine große Welle überspülte sie.
    »Frau über Bord!«, brüllte Rulfan.
    ***
    Die letzte Stunde der Nacht brach an. Im Schein zweier Fackeln schritt Varmer um den Horsaywagen herum und betrachtete seine grausige Ladung: Vier Männer und eine Frau, alle voller Blut und mit zerrissenen Kleidern. Es hatte aufgehört zu regnen. Nicht ungünstig für Varmers Plan.
    Varmer trat an die Ladefläche, holte aus und schlug in ein blutverschmiertes Männergesicht. »Nicht bewegen, verdammt noch mal! Nicht einmal mit der Wimper darfst du zucken! Versuche es noch einmal!« Der scheinbar Erschlagene nickte.
    Varmer drehte die nächste Runde um den Wagen; langsamer noch diesmal, und ganz genau betrachtete er die verkrümmten und blutverschmierten Gestalten. Jedenfalls drei von ihnen. Das Mädchen und sein Vater waren ja tatsächlich tot und nicht mehr in Versuchung, mit den Lidern zu zucken oder eine der Fliegen zu vertreiben, die sich auf ihren Lippen und Augen niedergelassen hatten. Sie lagen ganz vorn im Wagen, direkt hinter dem Kutschbock.
    Diesmal war Varmer zufrieden. Oder fast zufrieden. Er bückte sich noch einmal zwischen die Büsche, wo das geschächtete Schaf neben dem Ledereimer lag, in den sie sein Blut hatten fließen lassen. Der bärtige Hüne griff nach dem tönernen

Weitere Kostenlose Bücher