307 - Späte Vergeltung
es auf für äußerst fatal, sich eine Besatzungsmacht freiwillig ins Haus zu holen. Normalerweise hast du doch deine fünf Sinne beieinander.«
Rulfan zögerte und Matt glaubte schon, er würde zur Einsicht kommen. Doch dann ließ ihn der Albino wortlos stehen, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
***
Festung Eibrex
»Nein!«
Entsetzt stierte Ninian auf den Käfig, den sie soeben mit einer Seilwinde aus dem Bestiarium hochgezogen hatte. Ihr Entsetzen ließ nicht nach, als sie um den Käfig herumging und ihn immer wieder berührte.
Die Chefexekutorin hatte erwartet, ein wimmerndes, um Gnade bettelndes Opfer vorzufinden. Stattdessen waren zwei Gitterstäbe ein Stück auseinandergebogen – und blutverschmiert.
Eine der Bestien muss die Stäbe verbogen und die Frau herausgezerrt haben. Verflucht! Wenn Meister Chan das erfährt, bin ich erledigt. Ich muss ihm eine Lügengeschichte erzählen. Irgendwas wird mir schon einfallen...
Ninian fühlte sich, als bewege sie sich in einer völlig surrealen Welt. Ihre Knie zitterten leicht, ihr ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Es dauerte Minuten, bis sie sich wieder gefangen hatte. Den ganzen Tag wälzte sie fieberhafte Gedanken, wollte sogar ins Bestiarium steigen, um nach Xijs Überresten zu forschen, ließ es aber bleiben, als sie an ihre eigenen Erfahrungen in dieser Unterwelt zurückdachte.
Später am Tag erhielt sie plötzlich eine Nachricht, die sie nur im ersten Moment erleichtert aufatmen ließ: Eine Stadtstreife, die in eine Schießerei verwickelt worden war, beschrieb eine Angreiferin, die Xij sein musste.
Es war unglaublich. Konnte die Gefangene denn tatsächlich aus dem Bestiarium und – mehr noch – aus Eibrex entkommen sein? Ninian konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie ihr das gelungen sein mochte. Aber die Beschreibung der Frau ließ kaum Zweifel zu.
Immerhin, ich bekomme eine zweite Chance. Ich muss mir die Schlampe nur rechtzeitig wieder greifen. Aber wo ist sie jetzt?
Ninian schluckte schwer. Zweifellos war Xij wegen Chan nach Eibrex gekommen. Und sie hatte mitbekommen, dass der Meister nach Canduly Castle reiste. Die Wahrscheinlichkeit, dass Xij ihm dorthin folgte, war also ziemlich hoch.
Ein schmerzhaftes Ziehen machte sich in Ninians Unterleib breit. Ausgerechnet Canduly Castle!
Ich will nicht dorthin zurück. Nie wieder...
Denn auf Canduly lebte Rulfan, den sie irrtümlicherweise als ihren Aynjel angebetet und ein Drittel seiner Familie ausgelöscht hatte. Ein Kapitel ihres Lebens, das sie noch immer sehr stark schmerzte, weil sie sich dadurch unendlich erniedrigt fühlte.
Aber es hilft nichts, wenn ich meinen Job behalten will...
Ninian machte sich noch am selben Tag auf in die Highlands.
***
Seit Stunden schon trieb sich Xij Hamlet in den Wäldern um Canduly Castle herum. Das Horsay hatte sie in einiger Entfernung angebunden und nur den Kampfstock aus dem Futteral mitgenommen. Mit der vertrauten Waffe fühlte sie sich gleich besser. Ihren Nadler hatte sie in Canduly Castle zurückgelassen, weil sie damit in Eibrex kaum durch die Kontrollen gekommen wäre. So eine Waffe gehörte nicht zur Ausstattung der Exekutoren.
Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn wurden immer steiler. Was sie sah, schmeckte ihr gar nicht. Die Exekutoren benahmen sich, als seien sie die Herren der Burg. Xij sah sie auf den Wehrgängen und auf Patrouille im umgebenden Wald. Da sich die Burgbewohner frei bewegten, hatte sich der Albino wohl mit Chan verbündet. Das ließ die blanke Wut in Xij hochkochen, vor allem jetzt, da sie Rulfan und Chan gemeinsam an der Burgmauer entlanggehen sah. Sie schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft, denn Rulfan gestikulierte immer wieder mit den Händen, während Chan bedächtig nickte. Es wirkte vertraut.
Xij konnte es einfach nicht glauben. Sie redete sich ein, dass Chan die Burgbewohner hypnotisch beeinflusste, genau so, wie Alastar es auf dem Flug nach Agartha mit Matt getan hatte, um dessen Unterbewusstsein zu erreichen. Auf jeden Fall hatte sie keine Chance, ungesehen in die Burg und an Chan heranzukommen, um ihm den Kragen umzudrehen.
Zumindest nicht ohne Hilfe. Das Gespräch zwischen Rulfan und Myrial, das sie bei ihrem Verschwinden erlauscht hatte, fiel ihr plötzlich wieder ein. Anscheinend lag Rulfan gerade mit Jed Stuart im Clinch.
Vielleicht sollte ich mit dem König reden und ihm die Sache schmackhaft machen...
Xij ließ Canduly hinter sich, lief zu dem Pferd zurück und machte sich auf
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