3096 Tage
bestätigte. Dass die Geschichte, die er mir auftischte, hinten und vorne nicht zusammenpasste, dass diese ominösen Auftraggeber vermutlich gar nicht existierten, diese Gedanken gingen mir zwar manchmal durch den Kopf. Wahrscheinlich hatte er sich die Hintermänner nur ausgedacht, um mich einzuschüchtern. Doch sicher wissen konnte ich das nicht, und selbst wenn sie erfunden waren, erfüllten sie ihren Zweck: Ich lebte in der ständigen Angst, dass in jedem Augenblick eine Horde böser Männer in mein Verlies kommen und über mich herfallen würde.
Die Bilder und Berichtsfetzen, die ich in den letzten Monaten in den Medien aufgeschnappt hatte, verdichteten sich zu immer erschreckenderen Szenarien. Ich versuchte, sie zu verdrängen - und malte mir zugleich aus, was die Täter alles mit mir machen würden. Wie das bei einem Kind überhaupt funktionieren würde. Welche Gegenstände sie benützen würden. Ob sie es gleich hier im Verlies machen oder mich in eine Villa, eine Sauna oder eine Dachmansarde bringen würden - wie im letzten Fall, der durch die Nachrichten gegangen war.
Wenn ich allein war, versuchte ich mich immer so zu positionieren, dass ich die Tür im Auge behielt. In den Nächten schlief ich wie ein gehetztes Tier, nur ein Auge geschlossen, in ständiger Alarmbereitschaft: Ich wollte von den Männern, denen ich angeblich übergeben werden sollte, nicht wehrlos im Schlaf überrascht werden. Ich war in jeder Sekunde unter Spannung, immer voller Adrenalin und getrieben von einer Angst, der ich in diesem kleinen Raum nicht entfliehen konnte. Die Angst vor den angeblich »wahren Empfängern« Heß den Mann, der vorgab, mich in ihrem Auftrag entführt zu haben, als fürsorgliche, freundliche Stütze erscheinen: Solange ich bei ihm war, trat das erwartete Grauen nicht ein.
* * *
In den Tagen nach meiner Entführung begann sich mein Verlies mit allerlei Dingen zu füllen. Zuerst brachte mir der Täter frische Kleidung: Ich besaß ja nur noch das, was ich am Leib trug. Meine Unterwäsche, meine Strumpfhose von Palmers, mein Kleid, meinen Anorak. Meine Schuhe hatte er verbrannt, um mögliche Spuren zu vernichten. Es waren die Schuhe mit den dicken Plateausohlen, die ich zu meinem zehnten Geburtstag bekommen hatte. Als ich an jenem Tag in die Küche kam, stand eine Torte mit zehn Kerzen auf dem Tisch, daneben lag ein Karton, der in buntes Glanzpapier eingewickelt war. Ich holte tief Luft und blies die Kerzen aus. Dann löste ich die Klebestreifen und schlug das Papier zur Seite. Wochenlang hatte ich meiner Mutter in den Ohren gelegen, sie solle mir bitte, bitte auch solche Schuhe kaufen, wie sie alle anderen trugen. Sie hatte kategorisch abgelehnt. Das sei nichts für Kinder, damit könne man nicht vernünftig laufen. Und nun lagen sie vor mir: schwarze Wildlederballerinas mit einem schmalen Riemen über dem Spann, darunter ein dickes, gewelltes Plateau aus Gummi. Ich war selig! Diese Schuhe, die mich auf einen Sitz um drei Zentimeter wachsen ließen, würden mir den Weg in mein neues selbstbewusstes Leben ganz sicher erleichtern.
Das letzte Geschenk meiner Mutter. Und er hatte es verbrannt. Damit hatte er mir nicht nur ein weiteres Bindeglied zu meinem alten Leben genommen, sondern auch ein Symbol - für die Stärke, die ich mir von diesen Schuhen erhofft hatte.
Nun gab mir der Täter einen alten Pullover von sich und militärgrüne Feinripp-T-Shirts, die er offenbar aus seiner Zeit beim Bundesheer behalten hatte. Das milderte in den Nächten die Kälte, die von außen kam. Gegen die Kälte, die mich im Inneren erfasste, behielt ich immer eines meiner eigenen Kleidungsstücke an.
Nach zwei Wochen brachte er mir als Ersatz für die dünne Schaumstoffmatte eine Gartenliege. Die Liegefläche war an Metallfedern aufgehängt, die bei jeder Bewegung leise quietschten. Das nächste halbe Jahr würde mich dieses Geräusch durch die langen Tage und Nächte im Verlies begleiten. Weil ich so fror - es hatte wohl kaum mehr als 15 Grad -, schleppte der Täter einen großen, schweren Elektroofen in den winzigen Raum. Und er brachte mir meine Schulsachen zurück. Die Tasche, so erzählte er mir, habe er mit den Schuhen verbrannt.
Mein erster Gedanke war, meinen Eltern eine Nachricht zukommen zu lassen. Ich nahm Stift und Papier und begann einen Brief an sie zu schreiben. Ich wandte viele Stunden auf, um ihn vorsichtig zu formulieren - und fand sogar eine Möglichkeit, ihnen mitzuteilen, wo ich mich befand: Ich
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