3096 Tage
seit Jahren auf die Entführung eines Kindes vorbereitet hat und dessen lang gehegter Wunsch damit endlich in Erfüllung gegangen ist. Im Gegenteil: Er wirkte wie jemand, dem ein entfernter Bekannter überraschend ein ungeliebtes Kind überlassen hat und der nun nicht weiß, wohin mit diesem kleinen Wesen, das Bedürfnisse hat, mit denen er nicht umgehen kann.
Während meiner ersten Tage im Verlies behandelte mich der Täter wie ein sehr kleines Kind. Das kam mir teils entgegen, ich hatte mich ja innerlich auf die emotionale Stufe eines Kindergartenkindes zurückgezogen: Er brachte mir alles zu essen, was ich mir wünschte - und ich benahm mich wie beim Übernachtungsbesuch bei einer entfernten Großtante, der man glaubhaft einreden kann, dass Schokolade ein angemessenes Frühstück sei. Gleich am ersten Morgen fragte er mich, was ich essen wollte. Ich wünschte mir Früchtetee und Kipferl. Tatsächlich kam er nach einiger Zeit mit einer Thermoskanne voll Hagebuttentee und einem Briochekipferl von der bekanntesten Bäckerei des Ortes zurück. Der Aufdruck auf der Papiertüte bestätigte meine Vermutung, dass ich irgendwo in Strasshof gefangen gehalten wurde. Ein anderes Mal bat ich um Salzstangen mit Senf und Honig. Auch diese »Bestellung« wurde gleich erledigt. Es erschien mir sehr seltsam, dass dieser Mann alle meine Wünsche erfüllte, wo er mir doch alles genommen hatte.
Sein Hang, mich wie ein kleines Kind zu behandeln, hatte jedoch auch schlechte Seiten. Er schälte mir jede Orange und schob sie mir Stück für Stück in den Mund, als ob ich nicht selbst essen könnte. Als ich einmal Kaugummi wollte, lehnte er ab - aus Angst, ich könne daran ersticken. Abends zwang er meinen Mund auf und putzte mir die Zähne wie einer Dreijährigen, die ihre Zahnbürste noch nicht halten kann. Nach ein paar Tagen packte er unsanft meine Hand, hielt sie mit festem Griff und schnitt mir die Fingernägel.
Ich fühlte mich zurückgesetzt, als hätte er mir jenen Rest an Würde genommen, den ich mir in dieser Situation noch zu bewahren versuchte. Gleichzeitig wusste ich, dass ich mich selbst ein Stück weit auf diese Stufe begeben hatte, die mich bis zu einem gewissen Grad schützte. Denn wie stark der Täter in seiner Paranoia darin schwankte, ob er mich als zu klein oder als zu selbständig behandelte, hatte ich bereits am ersten Tag zu spüren bekommen.
Ich fügte mich in meine Rolle ,und als der Täter das nächste Mal ins Verlies kam, um mir Essen zu bringen, tat ich alles, damit er blieb. Ich flehte. Ich bettelte. Ich kämpfte um seine Aufmerksamkeit, darum, dass er sich mit mir beschäftigte, mit mir spielte. Die Zeit allein im Verlies machte mich wahnsinnig.
So kam es, dass ich nach wenigen Tagen mit meinem Entfuhrer in meinem Gefängnis saß und Halma, Mühle und Mensch ärgere Dich nicht spielte. Die Situation kam mir unwirklich vor, wie aus einem absurden Film: Niemand in der Welt draußen würde glauben, dass ein Entführungsopfer alles daran setzt, um mit seinem Kidnapper Mensch ärgere Dich nicht zu spielen. Doch die Welt draußen war nicht mehr meine Welt. Ich war ein Kind und allein, und es gab nur einen einzigen Menschen, der mich aus der beklemmenden Einsamkeit retten konnte: der, der mir diese Einsamkeit angetan hatte.
Ich saß mit dem Entführer auf meiner Matte, würfelte und zog. Ich starrte auf die Muster auf dem Spielbrett, auf die kleinen bunten Figuren und versuchte, den Raum rundherum auszublenden und mir den Täter als väterlichen Freund vorzustellen, der sich großzügig Zeit für Spiele mit einem Kind nimmt. Je besser es mir gelang, mich von dem Spiel gefangennehmen zu lassen, desto weiter wich die Panik zurück. Ich wusste, dass sie in irgendeiner Ecke lauerte, immer bereit zum Sprung. Wenn ich kurz davor stand, ein Spiel zu gewinnen, machte ich unauffällig einen Fehler, um das drohende Alleinsein hinauszuzögern.
In diesen ersten Tagen erschien mir die Anwesenheit des Täters wie eine Garantie, dass das endgültige Grauen mich verschonen würde. Denn bei all seinen Besuchen sprach er von seinen angeblichen Auftraggebern, mit denen er schon während der Entfuhrung so hektisch telefoniert hatte und die mich »bestellt« hätten. Ich ging nach wie vor davon aus, dass es sich dabei um einen Kinderpornoring handeln müsse. Er selbst murmelte immer wieder etwas von Leuten, die kommen würden, um mich zu fotografieren, und »sonst was mit mir machen« würden, was meine Befürchtungen
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