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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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einen Wecker. Ich war in einem Zeitloch gefangen, in dem der Täter allein Herr über die Zeit war. Die Stunden und Minuten verschwammen zu einem zähen Brei, der sich dumpf über alles legte. Priklopil bestimmte wie ein Gott über Licht und Dunkelheit in meiner Welt. »Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.« Eine nackte Glühbirne, die mir diktierte, wann ich zu schlafen, wann ich wach zu sein hatte.
    Ich hatte den Täter jeden Tag nach dem Wochentag und dem Datum gefragt. Ich wusste nicht, ob er mich anlog, aber das spielte auch keine Rolle. Das Wichtigste war für mich das Gefühl, eine Verbindung zu meinem früheren Leben »oben« zu spüren. Ob es ein Schultag war oder ein freies Wochenende. Ob Feiertage oder Geburtstage nahten, die ich mit meiner Familie verbringen wollte. Zeit zu messen, das habe ich damals gelernt, ist vielleicht der wichtigste Anker überhaupt in einer Welt, in der man sich sonst aufzulösen droht. Der Kalender gab mir ein kleines Stückchen Orientierung zurück - und Bilder, zu denen der Täter keinen Zugang hatte. Ich wusste nun, ob die anderen Kinder früh aufstanden oder ausschlafen durften. In meiner Phantasie ging ich den Tagesablauf meiner Mutter durch. Heute würde sie ins Geschäft gehen. Übermorgen vielleicht eine Freundin besuchen. Und am Wochenende mit ihrem Freund einen Ausflug unternehmen. Die nüchternen Ziffern und Bezeichnungen für die Wochentage entwickelten so ein Eigenleben, das mir Halt gab.
    Fast noch wichtiger war der Wecker. Ich wünschte mir einen der altmodischen Sorte, der das Verstreichen der Sekunden mit einem monotonen, lauten Ticken begleitete. Meine geliebte Großmutter hatte einen solchen Wecker. Als ich klein war, hatte ich das laute Ticken, das mich beim Einschlafen störte und sich bis in meine Träume schlich, verabscheut. Nun hielt ich mich an diesem Ticken fest wie jemand, der unter Wasser gefangen ist, an einem letzten Strohhalm, durch den noch etwas Luft von oben in die Lungen kommt. Der Wecker bewies mir mit jedem Ticken, dass die Zeit nicht stehen geblieben war und die Erde sich weiterdrehte. In meinem Schwebezustand ohne ein Gefühl für Zeit und Raum war er meine tickende Verbindung zur realen Welt draußen.
    Wenn ich mich anstrengte, konnte ich mich so sehr aufsein Geräusch konzentrieren, dass ich zumindest für ein paar Minuten das nervtötende Surren des Ventilators, das meinen Raum bis zur Schmerzgrenze füllte, ausblenden konnte. Abends, wenn ich auf der Liege lag und nicht einschlafen konnte, war das Ticken des Weckers wie ein langes Rettungsseil, an dem ich mich aus dem Verlies hangeln und in mein Kinderbett in der Wohnung meiner Großmutter schleichen konnte. Dort würde ich beruhigt einschlafen können, in dem Wissen, dass sie im Nebenzimmer über mich wachte. An solchen Abenden rieb ich mir oft etwas Franzbranntwein auf die Hand. Wenn ich mein Gesicht darauf legte und mir der charakteristische Geruch in die Nase stieg, durchströmte mich ein Gefühl der Nähe. So wie früher, wenn ich als Kind mein Gesicht in der Schürze meiner Großmutter vergraben hatte. So konnte ich einschlafen.
    Tagsüber war ich damit beschäftigt, den winzigen Raum so wohnlich zu gestalten wie nur möglich. Ich verlangte vom Täter Putzmittel, um den feuchten Geruch nach Keller und Tod zurückzudrängen, der über allem hing. Auf dem Boden des Verlieses hatte sich durch die zusätzliche Feuchtigkeit, die allein meine Anwesenheit verursachte, bereits ein feiner, schwarzer Schimmel gebildet, der die Luft noch muffiger und das Atmen noch schwerer machte. An einer Stelle war das Laminat aufgeweicht, weil Nässe aus dem Erdreich nach oben drang. Der Fleck war eine dauernde, schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich mich offenbar weit unter der Erde befand. Der Täter brachte mir ein rotes Kehrset, eine Flasche Pril, ein Raumspray und genau jene Putztücher mit Thymiangeruch, die ich früher immer in der Werbung gesehen hatte.
    Ich kehrte nun jeden Tag sorgfältig alle Ecken des Verlieses aus und wischte dann den Boden blank. Ich begann mit dem Schrubben bei der Tür. Die Wand dort war nur wenig breiter als das schmale Türblatt. Von dort führte sie nach links in schrägem Winkel in den Teil des Raumes, in dem die Toilette und die Doppelspüle untergebracht waren. Ich konnte Stunden darauf verwenden, mit Entkalkungsmitteln die kleinen Wassertropfen vom Metall der Spüle zu wischen, bis sie

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