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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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und einmal, erinnerte sie sich, hatte sie versucht, sich eine Ohrfeige zu geben, weil sie im Croquet betrogen hatte, als sie gegen sich selbst spielte; denn dieses eigenthümliche Kind stellte sehr gern zwei Personen vor. »Aber jetzt hilft es zu nichts«, dachte die arme Alice, »zu thun als ob ich zwei verschiedene Personen wäre. Ach! es ist ja kaum genug von mir übrig zu einer anständigen Person!«
     
    EINES DER ERSTEN BÜCHER, die ich im Verlies las, war »Alice im Wunderland« von Lewis Carroll. Das Buch berührte mich auf eine unangenehme, unheimliche Weise. Alice, ein Mädchen wohl in meinem Alter, folgt im Traum einem weißen, sprechenden Kaninchen zu seinem Bau. Als sie hineinschlüpft, stürzt sie in die Tiefe und landet in einem Raum mit unzähligen Türen. Sie ist gefangen in einer Zwischenwelt unter der Erde, der Weg nach oben ist versperrt. Alice findet den Schlüssel zur kleinsten Tür und ein Fläschchen mit Zaubertrank, das sie schrumpfen lässt. Kaum durch den winzigen Durchlass gelangt, fällt die Tür hinter ihr zu. In der unterirdischen Welt, die sie nun betritt, passt nichts zusammen: Die Dimensionen ändern sich ständig, die sprechenden Tiere, denen sie dort begegnet, tun Dinge, die jeder Logik widersprechen. Doch niemand scheint sich daran zu stören. Alles ist verrückt, aus dem Gleichgewicht geraten. Das ganze Buch ist ein einziger greller Alptraum, in dem sämtliche Naturgesetze ausgehebelt sind. Nichts und niemand ist normal, das Mädchen ist allein in einer Welt, die es nicht versteht und in der sie niemanden hat, mit dem sie sich austauschen könnte. Sie muss sich selbst Mut zusprechen, sich das Weinen verbieten und nach den Spielregeln der anderen agieren. Sie besucht die endlosen Teepartys des Hutmachers, auf denen sich allerlei verrückte Gäste tummeln, und nimmt am grausamen Croquetspiel der bösen Herz-Königin teil, an dessen Ende alle anderen Mitspieler zum Tod verurteilt werden. »Kopf ab!«, schreit die Königin und verfällt in irrsinniges Gelächter.
    Alice kann diese Welt tief unter der Erde wieder verlassen. Weil sie aus ihrem Traum aufwacht. Wenn ich nach wenigen Stunden Schlaf die Augen öffnete, war der Alptraum immer noch da. Er war meine Realität.
    Das ganze Buch, das ursprünglich unter dem Titel »Alice' Abenteuer unter der Erde« erschienen war, wirkte wie eine überdrehte Beschreibung meiner eigenen Lage. Auch ich war unter der Erde gefangen, in einem Raum, den der Täter durch viele Türen von der Außenwelt abgeriegelt hatte. Auch ich war in einer Welt gefangen, in der alle Regeln, die ich kannte, außer Kraft gesetzt waren. Alles, was in meinem Leben bislang gegolten hatte, war hier ohne Bedeutung. Ich war Teil der krankhaften Phantasie eines Psychopathen geworden, die ich nicht verstand. Nicht verstehen konnte. Es gab keinen Bezug mehr zu der anderen Welt, in der ich gerade noch gelebt hatte. Keine vertraute Stimme, kein vertrautes Geräusch, das mir zeigen würde, dass die Welt oben noch war. Wie sollte ich in dieser Situation einen Bezug zur Realität und zu mir selbst aufrechterhalten?
    Ich hoffte inständig, ich würde plötzlich, wie Alice, aufwachen. In meinem alten Kinderzimmer, verwundert über einen verrückten Angsttraum, der keinerlei Bezug zu meiner »echten Welt« hatte. Aber es war ja nicht mein Traum, in dem ich gefangen war, es war der des Täters. Und der schlief auch nicht, sondern hatte sein Leben der Verwirklichung einer grausamen Phantasie verschrieben, aus der es auch für ihn kein Entrinnen mehr gab.
    Ich habe den Täter von diesem Zeitpunkt an nicht mehr versucht zu überreden, mich freizulassen. Ich wusste, es hatte keinen Sinn.
     
    * *  *
     
    Die Welt, in der ich nun lebte, war auf fünf Quadratmeter zusammengeschrumpft. Wenn ich in ihr nicht verrückt werden wollte, musste ich versuchen, sie für mich zu erobern. Nicht wie das Volk der Spielkartenmenschen aus »Alice im Wunderland« nur zitternd auf den grausamen Ruf »Kopf ab!« warten; nicht mich wie all die Fabelwesen der verschobenen Wirklichkeit fügen. Sondern versuchen, mir an diesem finsteren Ort einen Rückzugsraum zu schaffen, in den der Täter zwar jederzeit eindringen konnte, aber in dem ich doch so viel wie möglich von mir und meiner alten Welt um mich weben wollte - wie einen schützenden Kokon.
    Ich begann, mich im Verlies einzurichten und das Gefängnis des Täters in meinen Raum zu verwandeln, in mein Zimmer. Als Erstes wünschte ich mir einen Kalender und

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