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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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Gebrüder Grimm, fern jeder Normalität? Natürlich. Hatte Strasshof nicht schon früher eine Aura des Bösen umgeben? Die verhassten Schwiegereltern meiner Schwester wohnten in einem Ortsteil namens Silberwald. Als kleines Kind habe ich die Begegnungen mit ihnen in der Wohnung meiner Schwester gefurchtet. Der Name des Ortes und die ablehnende Stimmung in dieser Familie hatten Silberwald - und damit Strasshof - schon vor meiner Entfuhrung zu einem verhexten Zauberwald werden lassen. Ja, ich war ganz sicher in einem Märchen gelandet, dessen Sinn sich mir nicht erschloss.
    Das Einzige, was nicht so recht in das böse Märchen passen wollte, war das Waschen am Abend. Ich konnte mich nicht daran erinnern, darüber schon einmal etwas gelesen zu haben. Im Verlies gab es nur das Doppel-Waschbecken aus Nirosta und kaltes Wässer. Die Warmwasserleitung, die der Täter installiert hatte, funktionierte noch nicht. Er brachte mir deshalb warmes Wasser in Plastikflaschen nach unten. Ich musste mich ausziehen, in eines der Becken setzen und die Füße in das andere stellen. Anfangs übergoss er mich dann einfach mit dem warmen Wasser. Später kam ich auf die Idee, kleine Löcher in die Flaschen zu stechen. So entstand eine Art Dusche. Wegen der beengten Lage musste er mir beim Waschen helfen; es war ungewohnt für mich, nackt vor ihm zu stehen, einem fremden Mann. Was wohl dabei in ihm vorging? Ich musterte ihn unsicher, aber er schrubbte mich ab wie ein Auto. Es lag weder etwas Zärtliches noch etwas Anzügliches in seinen Gesten. Er pflegte mich, wie man ein Haushaltsgerät instandhält.
     
    * *  *
     
    Genau in jenen Tagen, in denen sich das Bild vom bösen Märchen über die Realität legte, ging die Polizei endlich dem Hinweis des Mädchens nach, das meine Entführung beobachtet hatte. Am 18. März wurde die Aussage der einzigen Zeugin veröffentlicht, gemeinsam mit der Ankündigung, in den nächsten Tagen die Halter von 700 weißen Lieferwagen zu überprüfen. Der Täter hatte genug Zeit, sich vorzubereiten.
    Am Karfreitag, dem 35. Tag meiner Gefangenschaft, traf die Polizei in Strasshof ein und verlangte von Wolfgang Priklopil, sein Auto vorzufahren. Er hatte es voller Bauschutt geladen und gab an, den Lieferwagen für Renovierungsarbeiten zu nutzen. Am 2. März, so gab Priklopil laut Polizeiprotokoll an, habe er den ganzen Tag zu Hause verbracht. Zeugen dafür gebe es keine. Der Täter hatte kein Alibi - ein Fakt, der von der Polizei noch Jahre nach meiner Selbstbefreiung vertuscht wurde.
    Die Polizisten gaben sich damit zufrieden und sahen auch davon ab, das Haus zu überprüfen, was Priklopil ihnen angeblich freimütig angeboten hatte. Während ich im Verlies saß, auf Rettung hoffte und versuchte, meinen Verstand nicht zu verlieren, schossen sie lediglich ein paar Polaroids von dem Auto, mit dem ich gekidnappt worden war, die sie anschließend zu den Akten legten. In meinen Rettungsphantasien unten im Keller durchkämmten Spezialisten die Gegend auf der Suche nach meinen DNA-Spuren oder kleinsten Stofffetzen meiner Kleider. Doch oben sah das Bild anders aus: Die Polizei tat nichts dergleichen. Sie entschuldigte sich bei Priklopil und zog wieder ab, ohne das Auto oder das Haus genauer zu überprüfen.
    Wie knapp der Täter, hätte man die Sache wirklich ernst genommen, damals seiner Verhaftung entgangen war, erfuhr ich erst nach meiner Gefangenschaft. Dass ich nicht mehr freikommen würde, war mir hingegen knapp eine Woche später klar.
    Das Osterfest des Jahres 1998 fiel auf den 12. April. Am Ostersonntag brachte mir der Täter einen kleinen Korb mit bunten Eiern aus Schokolade und einem Schoko-Osterhasen. Wir »feierten« die Auferstehung Christi im kahlen Licht der Glühbirne an einem kleinen Gartentisch in meinem muffigen Verlies. Ich freute mich über die Naschereien und versuchte mit allen Mitteln, die Gedanken an draußen, an frühere Ostern zu verdrängen: Gras. Licht. Sonne. Bäume. Luft. Menschen. Meine Eltern.
    An diesem Tag erklärte mir der Täter, dass er die Hoffnung auf Lösegeld aufgegeben habe, weil meine Eltern sich immer noch nicht gemeldet hätten. »Sie interessieren sich offenbar nicht genug für dich«, sagte er. Dann kam das Urteil: lebenslänglich. »Du hast mein Gesicht gesehen und kennst mich schon zu gut. Ich kann dich jetzt nicht mehr freilassen. Ich werde dich nie wieder zu deinen Eltern zurückbringen, aber ich werde, so gut ich es kann, hier für dich sorgen.«
    Meine Hoffnungen wurden

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