3096 Tage
makellos glänzte, und die Toilette so sauber zu wischen, dass sie wie eine kostbare Blume aus Porzellan aus dem Boden wuchs. Dann arbeitete ich mich sorgsam von der Tür weg durch den Rest des Raumes: erst entlang der längeren, dann entlang der kürzeren Wandseite, bis ich an der schmalen Wand gegenüber der Tür angelangt war. Zum Schluss schob ich meine Liege zur Seite und wischte die Mitte des Raumes. Ich achtete peinlich genau darauf, nicht zu viele Putztücher zu verwenden, um die Feuchtigkeit nicht noch zu verstärken.
Wenn ich fertig war, hing eine chemische Version von Frische, Natur und Leben in der Luft, die ich gierig aufsog. Wenn ich dann noch etwas von dem Raumspray versprühte, konnte ich mich für einen Moment fallen lassen. Der Lavendelduft roch nicht sonderlich gut, aber er vermittelte mir eine Illusion von blühenden Wiesen. Und wenn ich die Augen schloss, wurde das Bild, das auf der Spraydose abgedruckt war, zu einer Kulisse, die sich vor die Wände meines Gefängnisses schob: Ich lief in Gedanken die endlosen blauvioletten Reihen von Lavendel entlang, spürte die Erde unter meinen Füßen und roch den herben Duft der Blüten. Die warme Luft war erfüllt vom Brummen der Bienen, die Sonne brannte heiß auf meinen Nacken. Über mir spannte sich der tiefblaue Himmel, unendlich hoch, unendlich weit. Die Felder reichten bis zum Horizont, ohne eine Mauer, ohne eine Beschränkung. Ich rannte, so schnell, dass ich das Gefühl hatte, als könne ich fliegen. Und nichts bremste mich in dieser blauvioletten Unendlichkeit.
Wenn ich die Augen aufschlug, holten mich die kahlen Wände jäh aus meinen Phantasiereisen zurück.
Bilder. Ich brauchte mehr Bilder, Bilder aus meiner Welt, die ich gestalten konnte. Die nicht der kranken Phantasie des Täters entsprachen, die mich aus jedem Winkel des Raumes ansprangen. Ich begann nach und nach, mit den Wachsmalkreiden aus meiner Schultasche die Nut-und-Feder-Bretter, mit denen die Wände verkleidet waren, zu bemalen. Ich wollte etwas von mir hinterlassen, so wie Gefangene die Wände ihrer Zellen bekritzeln. Mit Bildern, Sprüchen, Kerben für jeden einzelnen Tag. Sie tun das nicht aus Langeweile, das verstand ich nun: Das Malen ist eine Methode, mit dem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins umzugehen. Sie tun es, um sich und allen, die die Zelle jemals betreten werden, zu beweisen, dass sie existieren - oder zumindest einmal existiert haben.
Meine Wandmalereien hatten noch einen zweiten Zweck: Ich schuf mir damit eine Kulisse, in der ich mir vorstellen konnte, ich wäre zu Hause. Als Erstes versuchte ich, den Eingangsbereich unserer Wohnung an die Wand zu malen: An die Tür zum Verlies zeichnete ich unsere Türklinke, an die Wand daneben die kleine Kommode, die noch heute bei meiner Mutter im Flur steht. Ich malte akribisch den Umriss und die Griffe der Schubladen auf - zu mehr reichte die Farbe nicht aus, doch für die Illusion genügte es. Wenn ich nun auf der Liege lag und in Richtung Türe blickte, konnte ich mir vorstellen, sie würde gleich aufgehen, meine Mutter würde hereinkommen, mich begrüßen und den Schlüssel auf der Kommode ablegen.
Als Nächstes malte ich einen Stammbaum an die Wand. Mein Name stand ganz unten, dann kamen die Namen von meinen Schwestern, deren Männern und Kindern, von meiner Mutter und ihrem Freund, von meinem Vater und seiner Freundin und schließlich von meinen Großeltern. Ich wendete viel Zeit auf die Gestaltung dieses Stammbaums auf. Er gab mir einen Platz in der Welt und versicherte mir, dass ich Teil einer Familie, Teil eines Ganzen war - und nicht ein versprengtes Atom außerhalb der realen Welt, als das ich mich oft fühlte.
An die Wand gegenüber malte ich ein großes Auto. Es sollte ein Mercedes SL in Silber sein - mein Lieblingsauto, von dem ich ein Modell zu Hause hatte und das ich mir als Erwachsene einmal kaufen wollte. Statt auf Reifen rollte es auf prallen Brüsten. Das hatte ich einmal bei einem Graffiti an einer Betonwand in der Nähe unserer Siedlung gesehen. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich gerade dieses Motiv wählte. Ich wollte offenbar etwas Starkes, vermeintlich Erwachsenes. Schon in den letzten Monaten in der Volksschule hatte ich meine Lehrer manchmal mit Provokationen irritiert. Wir durften in der Zeit vor dem Unterricht die Tafel mit Kreide bemalen, wenn wir sie denn rechtzeitig wieder löschten. Während andere Kinder Blumen und Comicfiguren malten, kritzelte ich »Protest!«,
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