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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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keinen Laut von mir geben dürfe. Dann führte er mich über einen Vorraum und vier Stufen ins Haus. Es war dämmrig, alle Jalousien waren heruntergelassen. Eine Küche, ein Gang, Wohnzimmer, Flur. Die Räume, die ich nacheinander betrat, schienen mir unglaublich, fast lächerlich groß und weit. Ich hatte mich seit dem 2. März in einer Umgebung bewegt, in der die größte Distanz zwei Meter waren. Ich konnte den winzigen Raum aus jedem Winkel überblicken und sehen, was als Nächstes auf mich zukam. Hier verschluckte mich das Ausmaß der Räume wie eine große Welle. Hier konnte hinter jeder Tür, hinter jedem Fenster eine unangenehme Überraschung, das Böse, lauern. Ich wusste ja nicht, ob der Täter allein lebte und wie viele Personen noch in das Verbrechen verwickelt waren - und was sie mit mir tun würden, wenn sie mich »oben« sahen. Er hatte so oft von »den anderen« gesprochen, dass ich sie hinter jeder Ecke vermutete. Auch dass er eine Familie hatte, die eingeweiht war und nur darauf wartete, mich zu quälen, erschien mir plausibel. Jede erdenkliche Spielart des Verbrechens lag für mich im Bereich des Möglichen.
    Der Täter wirkte aufgeregt und nervös. Auf dem Weg ins Badezimmer zischte er mich immer wieder an: »Denk an die Fenster und die Alarmanlage. Tu, was ich dir sage. Ich bring dich um, wenn du schreist.« Nachdem ich den Zugang zu meinem Verlies gesehen hatte, hätte ich auch nicht den leisesten Zweifel daran gehabt, wenn er mir erzählt hätte, das ganze Haus sei vermint.
    Während ich mich mit gesenktem Blick, wie er es wollte, ins Badezimmer fuhren ließ, rasten meine Gedanken. Ich überlegte fieberhaft, wie ich ihn überwältigen und fliehen könnte. Es fiel mir nichts ein. Ich war als Kind kein Feigling, aber ich war schon immer ängstlich gewesen. Er war so viel stärker und schneller als ich - wenn ich losgerannt wäre, hätte er mich schon nach zwei Schritten gehabt; und die Türen und Fenster zu öffnen, war offensichtlich Selbstmord. Ich habe bis nach meiner Befreiung an die ominösen Sicherungen geglaubt.
    Es war allerdings schon damals nicht nur der äußere Zwang, die vielen unüberwindbaren Mauern und Türen, die körperliche Stärke des Täters, die mich an einem Fluchtversuch hinderten. Der Grundstein zu dem psychischen Gefängnis, dem ich im Laufe meiner Gefangenschaft immer weniger entrinnen konnte, war bereits gelegt. Ich war eingeschüchtert und ängstlich. »Wenn du kooperierst, dann geschieht dir nichts.« Der Täter hatte mir diesen Satz von Anfang an eingeimpft und mir die schlimmsten Sanktionen bis hin zum Tod angedroht, wenn ich mich ihm widersetzte. Ich war ein Kind und gewohnt, erwachsenen Autoritäten zu gehorchen - umso mehr, wenn sie mir Konsequenzen signalisierten. Die anwesende Autorität war er. Selbst wenn die Haustür in jenem Moment offen gestanden hätte: Ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte zu rennen. Eine Hauskatze, die zum ersten Mal in ihrem Leben zur Tür hinaus darf, wird verschreckt auf der Schwelle sitzen bleiben und kläglich miauen, weil sie nicht weiß, wie sie mit der plötzlichen Freiheit umgehen soll. Und hinter mir war nicht das schützende Haus, in das ich zurück konnte, sondern ein Mann, der bereit war, sein Verbrechen mit dem Leben zu verteidigen. Ich steckte bereits so tief in der Gefangenschaft, dass die Gefangenschaft längst in mir steckte.
    Der Täter ließ mir ein Schaumbad ein und blieb, als ich mich auszog und hineinstieg. Es störte mich, dass er mich nicht einmal im Bad allein ließ. Andererseits war ich es ja schon vom Duschen im Verlies gewöhnt, dass er mich nackt sah, also protestierte ich nur leise. Als ich in das warme Wasser sank und die Augen schloss, gelang es mir zum ersten Mal seit Tagen, alles um mich herum auszublenden. Weiße Schaumkronen schoben sich über meine Angst, tanzten durch das dunkle Verlies, spülten mich aus dem Haus und trugen mich mit sich fort. In unser Badezimmer zu Hause, in die Arme meiner Mutter, die mit einem großen, vofgewärmten Handtuch wartete und mich gleich ins Bett bringen würde.
    Das schöne Bild platzte wie eine Seifenblase, als der Täter mich zur Eile mahnte. Das Handtuch war rau und roch fremd. Niemand brachte mich ins Bett, stattdessen stieg ich hinab in mein dunkles Verlies. Ich hörte, wie er hinter mir die Holztüren versperrte, die Betontür zuzog und verriegelte. Ich stellte mir vor, wie er durch den engen Durchlass stieg, den Tresor wieder in die Öffnung

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