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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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»Fehler« die Freiheit gekostet. Aber es war das einzig Richtige. Ich musste mit diesem Menschen auskommen, sonst würde ich nicht überleben.
    Ich habe trotzdem nie Vertrauen zu ihm gefasst, das war unmöglich. Aber ich habe mich mit ihm arrangiert. Ich »tröstete« ihn wegen des Verbrechens, das er an mir beging, und appellierte zugleich an sein Gewissen, damit er es bereute und mich zumindest gut behandelte. Er revanchierte sich, indem er mir phasenweise kleine Wünsche erfüllte: eine Pferdezeitschrift, einen Stift, ein neues Buch. Manchmal erklärte er mir gar: »Ich erfülle dir jeden Wunsch!« Dann antwortete ich: »Wenn du mir jeden Wunsch erfüllst, warum lässt du mich dann nicht frei? Ich vermisse meine Eltern so.« Aber seine Antwort war immer die gleiche, und ich wusste sie schon: Meine Eltern liebten mich nicht - und er würde mich niemals freilassen.
    Nach ein paar Monaten im Verlies bat ich ihn zum ersten Mal, mich zu umarmen. Ich brauchte den Trost einer Berührung, das Gefühl menschlicher Wärme. Es war schwierig. Er hatte große Probleme mit Nähe, mit Berührungen. Ich selbst wiederum verfiel sofort in blinde Panik und Platzangst, wenn er mich zu sehr festhielt. Aber nach einigen Versuchen schafften wir es, einen Modus zu finden - nicht zu nahe, nicht zu eng, so dass ich die Umarmung aushalten konnte, und eng genug, damit ich mir einbilden konnte, eine liebevolle, umsorgende Berührung zu spüren. Es war der erste Körperkontakt zu einem Menschen seit vielen Monaten. Für ein zehnjähriges Kind eine unendlich lange Zeit.

Sturz ins Nichts
Der Raub meiner Identität
    »Du hast keine Familie mehr. Ich bin deine Familie. Ich bin dein Vater, deine Mutter, deine Oma und deine Schwestern. Ich bin jetzt alles für dich. Du hast keine Vergangenheit mehr. Du hast es so viel besser bei mir. Du hast Glück, dass ich dich aufgenommen habe und mich so gut um dich kümmere. Du gehörst nur mir. Ich habe dich erschaffen.«
     
    IM HERBST 1998, über ein halbes Jahr nach meiner Entführung, war ich völlig mutlos und traurig. Während für meine Klassenkameraden nach der 4. Klasse ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte, saß ich fest und strich die Tage am Kalender aus. Verlorene Zeit. Einsame Zeit. Meine Eltern fehlten mir so sehr, dass ich mich nachts vor Sehnsucht nach einem lieben Wort von ihnen, nach einer Umarmung auf meiner Liege zusammenkrümmte. Ich fühlte mich unendlich klein und schwach und war kurz davor zu kapitulieren. Wenn ich als kleines Kind niedergeschlagen und mutlos war, hatte meine Mutter mir immer ein heißes Wannenbad eingelassen. Sie gab seidig glänzende, bunte Badekugeln und so viel Badeseife ins Wasser, dass ich in Bergen aus knisternden, duftenden Schaumwolken versank. Nach dem Baden wickelte sie mich in ein dickes Badetuch, legte mich ins Bett und deckte mich zu. Ich verband damit immer das Gefühl von tiefer Geborgenheit. Ein Gefühl, das ich so lange schon entbehren musste.
    Der Täter konnte mit meiner Niedergeschlagenheit nur schwer umgehen. Wenn er ins Verlies kam und mich apathisch auf meiner Liege sitzen sah, musterte er mich irritiert. Er ging zwar nie direkt auf meine Stimmung ein, aber er versuchte, mich mit Spielen, einem Extrastück Obst oder einer Serienfolge auf Video aufzuheitern. Aber meine düstere Stimmung blieb. Wie sollte es auch anders sein? Ich litt ja nicht an einem Mangel an Unterhaltungsmedien. Sondern an der Tatsache, schuldlos an die Phantasie eines Mannes gekettet zu sein, der längst das Urteil lebenslänglich gefällt hatte.
    Ich sehnte mich nach dem Gefühl, das mich immer nach einem heißen Bad durchströmt hatte. Als der Täter in jenen Tagen zu mir ins Verlies kam, begann ich auf ihn einzureden. Ein Bad. Ob ich bitte nicht einmal baden könnte. Immer wieder fragte ich ihn. Ich weiß nicht, ob es ihn irgendwann nervte oder ob er von sich aus entschied, dass es vielleicht wirklich einmal Zeit für ein Vollbad wäre, jedenfalls überraschte er mich nach einigen Tagen des Bittens und Betteins mit dem Versprechen, dass ich ein Bad nehmen durfte. Wenn ich brav war.
    Ich durfte das Verlies verlassen! Ich durfte nach oben und baden!
    Doch was war dieses »oben«? Was würde mich dort erwarten? Ich schwankte zwischen Freude, Unsicherheit und Hoffnung. Vielleicht würde er mich ja allein lassen und vielleicht könnte ich ja diese Gelegenheit zur Flucht ...
    Es sollten noch einige Tage vergehen, bis der Täter mich aus dem Verlies holte. Und die nutzte er,

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