Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
Vom Netzwerk:
als dass sich jemand so bezeichnen lassen würde. Doch er bestand darauf, wieder und wieder: »Du sprichst mich mit Maestro an!« An diesem Punkt wusste ich, dass ich nicht nachgeben durfte. Jemand, der sich wehrt, lebt noch. Wer tot ist, kann sich nicht mehr wehren. Ich wollte nicht tot sein, auch nicht innerlich, ich musste ihm etwas entgegensetzen.
    Ich musste an die Passage aus »Alice im Wunderland« denken: »So etwas!«, dachte Alice, »ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe.« Vor mir stand ein Mensch, dessen Menschlichkeit weniger wurde; dessen Fassade bröckelte und den Blick freigab auf eine schwache Person. Ein Versager in der wirklichen Welt, der Stärke aus der Unterdrückung eines kleinen Kindes zog. Eine erbärmliche Vorstellung. Eine Fratze, die mich aufforderte, ihn »Maestro« zu nennen.
    Wenn ich mich heute an diese Situation erinnere, weiß ich, warum ich ihm diese Anrede damals verweigerte. Kinder sind Meister im Manipulieren. Ich muss instinktiv gespürt haben, wie wichtig ihm das war - und dass ich nun den Schlüssel dafür in der Hand hielt, selbst eine gewisse Macht ausüben zu können. Über die möglichen Folgen, die meine Weigerung nach sich ziehen könnte, habe ich in diesem Moment nicht nachgedacht. Das Einzige, was mir durch den Kopf schoss, war, dass ich mit einem solchen Verhalten schon einmal Erfolg gehabt hatte.
    In der Marco-Polo-Siedlung hatte ich manchmal die Kampfhunde der Gäste meiner Eltern ausgeführt. Die Besitzer hatten mir eingeschärft, die Hunde nie an die lange Leine zu nehmen - sie hätten das Zuviel an Bewegungsspielraum ausgenutzt. Ich sollte sie ganz knapp am Halsband nehmen, um ihnen jederzeit zeigen zu können, dass jedes Ausbrechen auf Widerstand stößt. Und ich dürfte ihnen gegenüber nie Angst zeigen. Wenn man das konnte, dann waren die Hunde selbst an der Hand eines Kindes, wie ich es damals war, zahm und gefügig.
    Als Priklopil nun vor mir stand, beschloss ich, mich von der furchterregenden Situation nicht einschüchtern zu lassen und ihn ganz knapp am Halsband zu nehmen. »Das mache ich nicht«, sagte ich ihm mit fester Stimme ins Gesicht. Er riss erstaunt die Augen auf, protestierte und verlangte immer wieder von mir, ihn »Maestro« zu nennen. Aber schließlich ließ er das Thema fallen.
    Für mich war das ein Schlüsselerlebnis, auch wenn mir das damals vielleicht nicht so klar gewesen ist. Ich hatte Stärke gezeigt, und der Täter hatte sich zurückgezogen. Das überhebliche Grinsen der Katze war zusammengeschnurrt. Übrig geblieben war ein Mensch, der eine böse Tat begangen hatte, von dessen Gemütsverfassungen ich existentiell abhängig war, der aber in gewisser Weise auch von mir abhängig war.
    Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen, wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. Irgendwo in den vielen Krimis und Fernsehfilmen, die ich früher gesehen hatte, hatte ich aufgeschnappt, dass Menschen böse werden, wenn sie von ihrer Mutter nicht geliebt werden und zu wenig Nestwärme bekommen. Aus heutiger Sicht war es ein überlebenswichtiger Schutzmechanismus, dass ich versuchte, den Täter als Menschen zu sehen, der nicht von Grund auf böse war, sondern der es erst im Laufe seines Lebens geworden war. Das relativierte keineswegs die Tat an sich, aber es half mir, ihm zu verzeihen. Indem ich mir einerseits vorstellte, dass er vielleicht als Waisenkind im Heim schreckliche Erfahrungen gemacht hatte, unter denen er heute noch litt. Und indem ich mir andererseits immer wieder sagte, dass er sicher auch seine guten Seiten hatte. Dass er mir meine Wünsche erfüllte, mir Süßigkeiten brachte, mich versorgte. Ich denke, dies war in meiner völligen Abhängigkeit die einzige Möglichkeit, die lebenswichtige Beziehung zum Täter aufrechtzuerhalten. Wäre ich ihm ausschließlich mit Hass begegnet, hätte mich dieser Hass so zerfressen, dass ich nicht mehr die Kraft gehabt hätte, zu überleben. Weil ich in jenem Augenblick hinter der Maske des Täters den kleinen, fehlgeleiteten und schwachen Menschen erkennen konnte, war ich in der Lage, auf ihn zuzugehen.
    Und es gab auch tatsächlich den Moment, in dem ich ihm das mitteilte. Ich sah ihn an und sagte: »Ich verzeihe dir, weil jeder einmal Fehler macht.« Es war ein Schritt, der manchen seltsam und krank vorkommen mag. Schließlich hatte mich sein

Weitere Kostenlose Bücher