3096 Tage
Ventilators schien direkt neben meinen Ohren zu entstehen und bohrte sich in mein Hirn, bis ich am liebsten laut geschrien hätte vor Verzweiflung. Die kalte Luft aus dem Dachboden blies mir direkt auf die Füße. Während ich zu Hause immer lang ausgestreckt auf dem Rücken geschlafen hatte, musste ich mich nun seitlich zusammenrollen wie ein Embryo und die Decke fest um die Füße wickeln, um dem unangenehmen Luftzug auszuweichen. Aber ich lag viel weicher als auf der Gartenliege, ich konnte mich drehen, hatte mehr Platz. Und vor allem hatte ich die neue Raufasertapete.
Ich streckte die Hand aus, berührte sie und schloss die Augen. Ich ließ die Möbel meines Kinderzimmers in Gedanken an mir vorbeiziehen, die Puppen und Kuscheltiere. Die Lage des Fensters und der Türe, die Vorhänge, den Geruch. Wenn ich es mir nur intensiv genug vorstellte, dann könnte ich mit der Hand an der Wand des Verlieses einschlafen - und würde am nächsten Tag, immer noch mit der Hand an der Wand, in meinem Zimmer aufwachen. Dann würde meine Mutter mir einen Tee ans Bett bringen, ich würde die Hand von der Tapete nehmen und alles wäre gut.
Jeden Abend schlief ich nun so ein, mit der Hand an der Tapete, und war mir sicher: Eines Tages werde ich beim Aufwachen tatsächlich wieder in meinem Kinderzimmer liegen. In dieser ersten Zeit glaubte ich daran wie an eine Zauberformel, die irgendwann in Erfüllung gehen würde. Später war die Berührung der Tapete wie ein täglich erneuertes Versprechen an mich selbst. Ich habe es gehalten: Als ich acht Jahre später zum ersten Mal nach der Gefangenschaft meine Mutter besuchte, legte ich mich auf das Bett in meinem Kinderzimmer, in dem sich nichts verändert hatte, und schloss die Augen. Als ich mit der Hand die Wand berührte, waren alle diese Momente wieder da - besonders der erste: Die kleine, zehnjährige Natascha, die verzweifelt versucht, das Vertrauen in sich selbst nicht zu verHeren, und das erste Mal die Hand an die Wand im Verlies legt. »Hier bin ich wieder«, flüsterte ich. »Siehst du, es hat funktioniert.«
* * *
Je weiter das Jahr voranschritt, umso stärker wurde meine Traurigkeit. Als ich im Kalender die ersten Dezembertage ausstrich, war ich so niedergeschlagen, dass mich auch der Krampus aus Schokolade nicht freute, den der Täter mir am Nikolaustag brachte. Weihnachten rückte immer näher. Und der Gedanke, die Feiertage allein in meinem Verlies zu verbringen, schien mir absolut unerträglich.
Wie wohl fur jedes Kind war Weihnachten für mich einer der Höhepunkte des Jahres. Der Duft von Keksen, der geschmückte Baum, die Vorfreude auf die Geschenke, die ganze FamiHe, die sich zu diesem Fest einfindet. Dieses Bild hatte ich vor Augen, als ich beinahe lustlos das Stanniolpapier von der Schokolade zog. Es war ein Bild aus Kindertagen, das mit den letzten Weihnachten, die ich mit meiner Familie verbracht hatte, wenig gemeinsam hatte: Meine Neffen waren zwar wie früher zu Besuch gekommen, aber sie hatten ihre Geschenke schon zu Hause erhalten. Ich war das einzige Kind bei der Bescherung. Meine Mutter hatte, was den Baumschmuck anging, eine Schwäche für die immer neuesten Moden, und so blinkte der Baum vor Lametta und lila Kugeln. Darunter lag ein Berg Geschenke für mich. Während ich ein Geschenk nach dem anderen auswickelte, saßen die Erwachsenen bei dudelndem Radio auf dem Sofa und sahen sich gemeinsam eine Zeitschrift für Tattoos an. Es waren Weihnachten, die mich zutiefst enttäuschten. Ich hatte noch nicht einmal jemanden überreden können, ein Weihnachtslied anzustimmen, obwohl ich so stolz darauf war, dass ich die Lieder auswendig konnte, die wir in der Schule geübt hatten.
Erst am nächsten Tag, als wir bei meiner Großmutter feierten, kam ich in Weihnachtsstimmung. Wir versammelten uns alle in einem Nebenzimmer und sangen andächtig »Stille Nacht«. Dann lauschte ich voller Vorfreude, bis das Bimmeln einer feinen Glocke ertönte. Das Christkind war da. Als wir die Tür zur Stube öffneten, erstrahlte der Weihnachtsbaum im Licht echter Bienenwachskerzen und verströmte einen herrlichen Duft. Meine Großmutter hatte immer einen traditionellen Bauernchristbaum, geschmückt mit Strohsternen und Glaskugeln, so zart wie Seifenblasen.
So stellte ich mir Weihnachten vor - und so sollte es auch dieses Jahr sein. Aber wie sollte das gehen? Ich würde das größte Familienfest des Jahres ohne Familie verbringen müssen. Die Vorstellung flößte mir
Weitere Kostenlose Bücher