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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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schrecklichen Verbrechens nichts anderes schaffen wollte als seine kleine, heile Welt, mit einem Menschen, der ganz für ihn da war. Er hat das wohl auf normalem Weg nie erreicht und deshalb beschlossen, jemanden dazu zu zwingen und dafür zu formen. Im Grunde wollte er auch nichts anderes als jeder Mensch: Liebe, Anerkennung, Wärme. Er wollte einen Menschen, für den er selbst der wichtigste Mensch auf der Welt war. Er scheint keinen anderen Weg gesehen zu haben, als ein schüchternes, zehnjähriges Kind zu entführen und es so lange von der Außenwelt abzuschneiden, bis es psychisch so weit war, dass er es neu »erschaffen« konnte.
    In dem Jahr, als ich elf wurde, nahm er mir meine Geschichte und meine Identität. Ich sollte nichts mehr sein als ein Stück weißes Papier, auf das er seine kranken Phantasien schreiben konnte. Er verweigerte mir sogar mein Spiegelbild. Wenn ich mich schon nicht im sozialen Umgang mit anderen Menschen als dem Täter spiegeln konnte, so wollte ich zumindest mein Gesicht sehen können, um mich nicht ganz zu verlieren. Aber er lehnte meinen Wunsch nach einem kleinen Spiegel immer wieder ab. Erst Jahre später bekam ich einen verspiegelten Alibert. Als ich zum ersten Mal hineinblickte, sah ich nicht mehr die kindlichen Züge von einst, sondern ein fremdes Gesicht.
    Hat er mich tatsächlich neu geschaffen? Wenn ich mir heute diese Frage stelle, kann ich sie nicht eindeutig beantworten. Einerseits hat er mit mir die falsche Person erwischt. Ich habe seinen Versuchen, mich auszulöschen und zu seinem Geschöpf zu machen, immer widerstanden. Er hat mich nie gebrochen.
    Andererseits fielen seine Versuche, einen neuen Menschen aus mir zu machen, gerade bei mir auf fruchtbaren Boden. Ich hatte in der Zeit vor der Entführung mein Leben satt und war so unzufrieden mit mir, dass ich selbst beschlossen hatte, etwas zu ändern. Und nur Minuten, bevor er mich in seinen Lieferwagen zerrte, hatte ich mir ja noch lebhaft ausgemalt, mich vor ein Auto zu werfen - so sehr hasste ich das Leben, zu dem ich mich gezwungen sah.
    Natürlich machte mich das Verbot, meine eigene Geschichte zu haben, unendlich traurig. Ich empfand es als tiefe Ungerechtigkeit, dass ich nicht mehr ich selbst sein und über den tiefen Schmerz, den der Verlust meiner Eltern mit sich brachte, nicht mehr sprechen durfte. Doch was war von meiner eigenen Geschichte denn geblieben? Sie bestand nur mehr aus Erinnerungen, die mit der echten Welt, die sich weiter gedreht hatte, nur wenig zu tun hatten. Meine Volksschulklasse gab es nicht mehr, meine kleinen Neffen hatten sich weiterentwickelt und würden mich vielleicht nicht einmal erkennen, wenn ich plötzlich vor ihnen stehen würde. Und meine Eltern waren vielleicht doch erleichtert, weil sie sich nun die langen Streitereien über mich ersparten. Der Täter hatte, indem er mich so lange von allem abgeschnitten hatte, die perfekte Grundlage dafür geschaffen, dass er mir meine Vergangenheit überhaupt erst nehmen konnte. Denn während ich auf der bewussten Ebene und ihm gegenüber immer die Meinung aufrechterhielt, dass die Entführung ein schweres Verbrechen gewesen war, sickerte sein dauernd wiederholter Befehl, ihn als Retter zu betrachten, immer tiefer in mein Unterbewusstsein. Es war für mich im Grunde ja auch viel einfacher, den Täter als Retter zu sehen, nicht als Bösewicht. Im verzweifelten Versuch, der Gefangenschaft positive Seiten abzuringen, um nicht daran zu zerbrechen, sagte ich mir: Es kann zumindest nicht mehr schlimmer kommen. Anders als in den vielen Fällen, von denen ich im Fernsehen gehört hatte, hatte mich der Täter bisher weder vergewaltigt noch ermordet.
    Der Raub meiner Identität eröffnete mir aber auch Freiräume. Wenn ich heute rückblickend an dieses Gefühl denke, erscheint es mir angesichts der totalen Freiheitsberaubung, in der ich mich befand, unverständlich und paradox. Doch damals fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben von Vorurteilen unbelastet. Ich war nicht mehr nur ein kleines Rädchen in einer Familie, in der die Rollen längst verteilt waren - und in der man mir die des ungeschickten Pummelchens zugedacht hatte. In der ich zum Spielball zwischen den Erwachsenen geworden war, deren Entscheidungen ich oft genug nicht verstanden hatte.
    Nun war ich zwar in einem System vollkommener Unterdrückung gefangen, hatte meine Bewegungsfreiheit verloren und ein einziger Mensch bestimmte über jedes Detail in meinem Leben. Aber diese Form der

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