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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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rotem Gilet und einer Gerte. Ich bat den Täter tagelang, mir ein paar Stoffreste zu bringen. Es konnte manchmal sehr lange dauern, bis er einem solchen Wunsch nachkam. Und auch nur dann, wenn ich seine Anweisungen strikt befolgte. Wenn ich etwa weinte, strich er mir für Tage alle Annehmlichkeiten wie die lebensnotwendigen Bücher und Videos. Ich musste, um etwas zu bekommen, Dankbarkeit zeigen und ihn für alles, was er tat, loben - bis hin zu der Tatsache, dass er mich eingesperrt hatte.
    Schließlich hatte ich ihn so weit, dass er mir ein altes T-Shirt brachte. Ein weißes Poloshirt aus weichem, glattem Jersey mit einem feinen blauen Muster. Es war das Shirt, das er am Tag meiner Entführung getragen hatte. Ich weiß nicht, ob er das vergessen hatte oder das Shirt in seinem Verfolgungswahn einfach loswerden wollte. Aus dem Stoff nähte ich für meine Barbie ein Cocktailkleid mit feinen Spaghettiträgern aus Fäden und ein elegantes, asymmetrisches Top. Aus einem Ärmel bastelte ich mir mit Hilfe einer Schnur, die ich bei meinen Schulsachen gefunden hatte, ein Etui für meine Brille. Später konnte ich den Täter noch überreden, mir eine alte Stoffserviette zu überlassen, die beim Wäschen blau geworden war und die er nun als Putzfetzen verwendete. Daraus wurde ein Ballkleid für meine Barbie, mit einem dünnen Gummiband in der Taille.
    Später formte ich Topfuntersetzer aus Drähten und faltete kleine Kunstwerke aus Papier. Der Täter brachte mir Handarbeitsnadeln ins Verlies, mit denen ich häkeln und stricken übte. Draußen, als Volksschulkind, hatte ich das nie richtig gelernt. Wenn ich einen Fehler gemacht hatte, verlor man rasch die Geduld mit mir. Nun hatte ich unendlich viel Zeit, niemand wies mich zurecht, ich konnte immer wieder von vorne anfangen, bis meine kleinen Arbeiten perfekt waren. Diese Handarbeiten wurden zu einem psychischen Rettungsanker für mich. Sie bewahrten mich vor dem Wahnsinn der einsamen Untätigkeit, zu der ich gezwungen war. Und ich konnte dabei beinahe meditativ an meine Eltern denken, während ich kleine Geschenke für sie herstellte - für irgendwann, wenn ich wieder frei sein würde.
    Dem Täter gegenüber durfte ich allerdings mit keinem Wort erwähnen, dass ich etwas für meine Eltern gebastelt hatte. Ich versteckte die Bilder vor ihm und sprach seltener von ihnen: Denn er reagierte immer ungehaltener, wenn ich von meinem Leben draußen, vor der Gefangenschaft, sprach. »Deine Eltern lieben dich nicht, denen bist du egal, sonst hätten sie doch für dich Lösegeld bezahlt«, hatte er mich anfangs noch verärgert angeblafft, wenn ich davon sprach, wie sehr ich sie vermisste. Dann, irgendwann im Frühjahr 1999, kam das Verbot: Ich durfte meine Eltern nicht mehr erwähnen und von nichts sprechen, was ich vor der Gefangenschaft erlebt hatte. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwestern und Neffen, die Schule, der letzte Skiausflug, mein zehnter Geburtstag, das Ferienhaus meines Vaters, meine Katzen. Unsere Wohnung, meine Gewohnheiten, das Geschäft meiner Mutter. Meine Lehrerin, meine Schulfreunde, mein Zimmer: Alles, was vorher war, wurde zum Tabu.
    Das Verbot meiner Geschichte wurde zu einem fixen Bestandteil seiner Besuche in meinem Verlies. Wenn ich meine Eltern erwähnte, bekam er einen Wutanfall. Wenn ich weinte, drehte er das Licht ab und ließ mich so lange in völliger Dunkelheit, bis ich wieder »brav« war. Bravsein, das hieß: Ich sollte dankbar sein dafür, dass er mich von meinem Leben vor der Gefangenschaft »befreit« hatte.
    »Ich habe dich gerettet. Du gehörst jetzt mir«, sagte er immer wieder. Oder: »Du hast keine Familie mehr. Ich bin deine Familie. Ich bin dein Vater, deine Mutter, deine Oma und deine Schwestern. Ich bin jetzt alles für dich. Du hast keine Vergangenheit mehr«, bläute er mir ein. »Du hast es so viel besser bei mir. Du hast Glück, dass ich dich aufgenommen habe und mich so gut um dich kümmere. Du gehörst nur mir. Ich habe dich erschaffen.«
     
    * *  *
     
    »Weil Pygmalion gesehen hatte, wie die Frauen ihr Leben schändlich verbrachten, war er abgestoßen von ihren Fehlern, die ihnen die Natur in reicher Zahl gab, und lebte daher unvermählt ohne Frau und hatte auch schon lange keine Geliebte. Inzwischen bearbeitete er schneeweißes Elfenbein mit wunderbarer Kunst und gab ihm eine Form, wie sie keine menschliche Frau besitzen kann.« (Ovid, Metamorphosen)
     
    Ich glaube heute, dass sich Wolfgang Priklopil über den Umweg eines

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