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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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in einem Aquarium. Wie ein Fisch in einem zu kleinen Behälter, der sehnsüchtig nach draußen sieht, aber nicht aus dem Wasser springt, solange er in seinem Gefängnis noch überleben kann. Denn die Grenze zu überschreiten bedeutet den sicheren Tod.
    Die Grenze zum Außen war so absolut, dass sie mir unüberwindbar schien. Als hätte das Haus einen anderen Aggregatzustand als die Welt außerhalb seiner biederen, gelben Mauern. Als befänden sich das Haus, der Garten, die Garage mit dem Verlies auf einer anderen Matrix. Manchmal wehte eine Ahnung von Frühling durch ein gekipptes Fenster herein. Ab und zu hörte ich entfernt ein Auto durch die ruhige Straße fahren. Sonst war von der Außenwelt nichts zu spüren. Die Jalousien waren immer heruntergelassen, das ganze Haus war in Dämmerlicht getaucht. Die Alarmanlagen an den Fenstern waren aktiviert - zumindest war ich davon überzeugt. Es gab immer noch Momente, in denen ich an Flucht dachte. Aber ich wälzte keine konkreten Pläne mehr. Der Fisch springt nicht über den Glasrand, dort lauert nur der Tod. Die Sehnsucht nach Freiheit blieb.
     
    * *  *
     
    Ich stand nun unter andauernder Beobachtung. Ich durfte keinen einzigen Schritt tun, ohne dass er mir vorher befohlen wurde. Ich musste so stehen, sitzen oder gehen, wie der Täter es wollte. Ich musste fragen, wenn ich aufstehen oder mich setzen wollte, bevor ich den Kopf drehte oder die Hand ausstreckte. Er schrieb mir vor, wohin ich den Blick richten durfte, und begleitete mich selbst auf die Toilette. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Die Zeit allein im Verlies oder die Zeit, in der ich keine Sekunde mehr allein war.
    Die permanente Beobachtung verstärkte mein Gefühl, in einem wahnsinnigen Experiment gelandet zu sein. Die Atmosphäre im Haus intensivierte diesen Eindruck zusätzlich. Hinter seiner bürgerlichen Fassade wirkte es, als sei es aus Zeit und Raum herausgefallen. Leblos, unbewohnt, wie eine Kulisse für einen düsteren Film. Von außen hingegen fügte es sich perfekt in die Umgebung ein: spießig, außerordentlich gepflegt, mit dichten Hecken um den großen Garten sorgsam von den Nachbarn abgeschirmt. Neugierige Blicke unerwünscht.
    Strasshof ist ein gesichtsloser Ort ohne Geschichte. Ohne Ortskern und ohne dörflichen Charakter, den man bei einer Einwohnerzahl von heute rund 9000 Menschen erwarten könnte. Nach dem Ortsschild ziehen sich die Häuser geduckt im flachen Marchfeld an einer Durchgangsstraße und der Bahnlinie entlang, immer wieder durchbrochen von Gewerbegebieten, wie sie sich im billigen Umland jeder Großstadt finden. Schon der vollständige Ortsname - Strasshof an der Nordbahn - legt nahe, dass es sich hier um eine Siedlung handelt, die von der Anbindung an Wien lebt. Man fährt von hier weg, man fährt hier durch, aber ohne Grund nicht hierher. Die einzigen Attraktionen des Ortes sind eine »Denkmallokomotive« und ein Eisenbahnmuseum namens »Heizhaus«. Vor hundert Jahren wohnten nicht einmal fünfzig Menschen hier, die heutigen Bewohner arbeiten in Wien und kehren nur zum Schlafen in ihre Einfamilienhäuser zurück, die sich monoton aneinanderreihen. Am Wochenende surren die Rasenmäher, die Autos werden poliert, und die gute Stube bleibt hinter zugezogenen Stores und Jalousien im Halbdunkel versteckt. Hier zählt die Fassade, nicht der Blick dahinter. Ein perfekter Ort, um ein Doppelleben zu führen. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen.
    Das Haus selbst hatte einen Grundriss, der typisch war für einen Bau aus den frühen 1970er Jahren. Im Erdgeschoss ein langer Gang, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte, links Bad und Toilette, rechts das Wohnzimmer, am Ende des Ganges die Küche. Ein länglicher Raum, links eine Küchenzeile mit rustikalen Fronten aus nachgebildetem, dunklem Holz, am Boden Fliesen mit orange-braunem Blumenmuster. Ein Tisch, vier Stühle mit Stoffbezug, Prilblumenhaken an den grauweißen Wandfliesen mit den dunkelgrünen Zierblumen neben der Spüle.
    Das Auffälligste war eine Fototapete, die sich über die rechte Wandseite spannte. Ein Birkenwald, grün, mit schlanken Bäumen, die sich nach oben reckten, als wollten sie der drückenden Atmosphäre des Raumes entfliehen. Als ich sie das erste Mal bewusst wahrnahm, kam es mir grotesk vor, dass jemand, der jederzeit hinaus in die Natur gehen konnte, der jederzeit das Leben spüren konnte, sich mit künstlicher, toter Natur umgibt. Während ich verzweifelt versuchte, Leben in meinen toten Raum

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