3096 Tage
Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte mühsam, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Der Täter führte mich durch den Garten bis zur Ligusterhecke. Dort streckte ich die Hand aus und berührte vorsichtig die dunklen Blätter. Sie dufteten herb und glänzten im Mondlicht. Es erschien mir wie ein Wunder, etwas Lebendiges mit der Hand zu berühren. Ich zupfte ein paar Blätter ab und steckte sie ein. Eine Erinnerung an die Lebendigkeit der Welt draußen.
Nach einem kurzen Moment an der Hecke führte er mich zum Haus zurück. Zum ersten Mal sah ich es, im Mondlicht, von außen: ein gelbes Einfamilienhaus mit abgeschrägtem Dach und zwei Schornsteinen. Die Fenster hatten weiße Umrandungen. Der Rasen, über den wir zurückgingen, wirkte unnatürlich kurz und gut gepflegt.
Plötzlich überfielen mich Zweifel. Ich sah Gras, Bäume, Blätter, ein Stück Himmel, ein Haus, einen Garten. Aber war das die Welt, so wie ich sie in Erinnerung hatte? Alles erschien mir zu flach, zu künstlich. Das Gras war grün und der Himmel hoch, aber man sah doch, dass es sich um Kulissen handelte! Er hatte die Hecke, das Haus dorthin gestellt, um mir etwas vorzuspiegeln. Ich war in einer Inszenierung gelandet, an einem Ort, an dem man Außenszenen einer Fernsehserie drehte. Es gab keine Nachbarn, keine Stadt mit meiner Familie nur 25 Autominuten entfernt. Stattdessen lauter Komplizen des Täters, die mir vorspielten, ich wäre draußen, während sie mich auf großen Monitoren beobachteten und über meine Naivität lachten. Ich schloss die Hand fest um die Blätter in meiner Tasche, als könnten sie mir etwas beweisen: dass dies Wirklichkeit war, dass ich Wirklichkeit war. Aber ich fühlte nichts. Nur eine große Leere, die wie eine kalte Hand unbarmherzig nach mir griff.
Misshandlung und Hunger
Der tägliche Kampf ums Überleben
Ich spürte damals, dass der Täter mich mit körperlicher Gewalt nicht brechen konnte. Wenn er mich die Treppen zum Verlies hinunterschleifte, mein Kopf auf jeder Stufe aufschlug und meine Rippen Prellungen davontrugen, dann war es nicht ich, die er ins Dunkel auf den Boden warf. Wenn er mich gegen die Wand drückte und würgte, bis mir schwarz vor Augen wurde, war es nicht ich, die um Luft rang. Ich war weit weg, an einem Ort, an dem er mich selbst mit seinen schlimmsten Tritten und Schlägen nicht berühren konnte.
MEINE KINDHEIT WAR VORBEI, als ich mit zehn Jahren entführt wurde. Meine Zeit als Kind im Verlies endete im Jahr 2000. Eines Morgens wachte ich mit ziehenden Schmerzen im Unterleib auf und entdeckte Blutflecken auf meinem Schlafanzug. Ich wusste sofort, was los war. Ich hatte schon Jahre auf meine Regel gewartet. Aus der Werbung, die der Täter nach manchen Serien mit aufgenommen hatte, kannte ich eine bestimmte Marke von Monatsbinden, die ich haben wollte. Als er ins Verlies kam, bat ich ihn so abgeklärt wie möglich, einige Packungen für mich zu kaufen.
Der Täter war angesichts dieser Entwicklung zutiefst verunsichert, sein Verfolgungswahn erreichte eine neue Stufe. Hatte er bislang schon penibel jeden Fussel aufgepickt, jeden einzelnen Fingerabdruck hektisch weggewischt, um wirklich alle Spuren von mir zu beseitigen, achtete er nun beinahe hysterisch darauf, dass ich mich oben im Haus nirgends hinsetzte. Wenn ich doch einmal sitzen durfte, legte er mir Stapel von Zeitungen unter, im absurden Bemühen, noch den kleinsten Blutfleck in der Wohnung zu verhindern. Er rechnete nach wie vor täglich damit, dass die Polizei auftauchen und sein Haus nach DNA-Spuren durchsuchen würde.
Ich fühlte mich durch sein Verhalten persönlich angegriffen und kam mir vor wie eine Aussätzige. Es war eine verwirrende Zeit, in der ich dringend meine Mutter oder eine meiner älteren Schwestern gebraucht hätte, um über diese körperlichen Veränderungen zu sprechen, mit denen ich so plötzlich konfrontiert war. Aber mein einziger Ansprechpartner war ein Mann, der damit heillos überfordert war. Der mich behandelte, als wäre ich schmutzig und abstoßend. Und der offenbar noch nie mit einer Frau zusammengelebt hatte.
Sein Verhältnis zu mir änderte sich mit dem Einsetzen der Pubertät deutlich. Solange ich noch ein Kind gewesen war, »durfte« ich in meinem Verlies bleiben und mich im eng gesteckten Rahmen seiner Vorgaben um mich kümmern. Nun, als heranwachsende Frau, musste ich ihm zu Diensten sein und unter strenger Aufsicht Arbeiten im und am Haus übernehmen.
Ich fühlte mich oben im Haus wie
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