3096 Tage
Unterdrückung und Manipulation war direkt und klar. Der Täter war kein Typ, der subtil agierte - er wollte offen und unverblümt Macht ausüben. Im Schatten dieser Macht, die mir alles vorschrieb, konnte ich paradoxerweise zum ersten Mal in meinem Leben ich selbst sein.
Ein Indiz dafür ist für mich heute die Tatsache, dass ich seit meiner Entführung nie mehr ein Problem mit dem Bettnässen hatte. Obwohl ich einer unmenschlichen Belastung ausgesetzt war. Doch eine bestimmte Art von Stress scheint damals von mir abgefallen zu sein. Müsste ich es in einem Satz zusammenfassen, würde ich sagen: Wenn ich meine Geschichte abstreifte und mich dem Täter fügte, war ich erwünscht - zum ersten Mal seit langem.
Im Spätherbst 1999 wurde das »Abstreifen« meiner Identität vollendet. Der Täter hatte mir befohlen, mir einen neuen Namen auszusuchen: »Du bist nicht mehr Natascha. Du gehörst jetzt mir.«
Ich hatte mich lange geweigert, auch weil ich fand, dass die Nennung eines Namens ohnehin unwichtig war. Es gab nur mich und ihn, und »du« genügte, um zu wissen, wer gemeint war. Aber den Namen »Natascha« zu erwähnen rief so viel Wut und Unmut in ihm hervor, dass ich nachgab. Und außerdem: Hatte ich diesen Namen nicht schon immer nicht gemocht? Er hatte für mich, wenn meine Mutter ihn tadelnd rief, einen hässlichen Klang nach unerfüllten Erwartungen und Ansprüchen, die an mich gestellt wurden und denen ich nie genügen konnte. Schon als Kind hatte ich mir einen dieser Namen gewünscht, mit denen die anderen Mädchen gerufen wurden: Stefanie, Jasmin, Sabine. Alles, nur nicht Natascha. In Natascha steckte alles, was ich an meinem früheren Leben nicht gemocht hatte. Alles, was ich loswerden wollte, was ich loswerden musste.
Der Täter schlug »Maria« als neuen Namen für mich vor, weil seine beiden Omas so hießen. Obwohl mir der Vorschlag nicht gefiel, stimmte ich zu, weil Maria ohnehin mein zweiter Vorname ist. Das wiederum ging dem Täter gegen den Strich, da ich ja einen gänzlich neuen Namen bekommen sollte. Er drängte mich, ihm etwas anderes vorzuschlagen. Und zwar sofort.
Ich blätterte durch meinen Kalender, der auch Namenstage enthielt, und stieß am 2. Dezember auf den Eintrag unmittelbar neben Natascha: »Bibiana«. Für die nächsten sieben Jahre wurde Bibiana zu meiner neuen Identität, auch wenn es dem Täter nie gelang, meine alte ganz auszulöschen.
* * *
Der Täter hatte mir meine Familie genommen, mein Leben und meine Freiheit, meine alte Identität. Das physische Gefängnis des Verlieses unter der Erde hinter den vielen schweren Türen wurde Stück für Stück um ein psychisches ergänzt, dessen Mauern immer höher wurden. Und ich begann, dem Gefängniswärter, der es baute, dafür zu danken. Denn am Ende dieses Jahres erfüllte er mir einen meiner sehnlichsten Wünsche: einen Moment unter freiem Himmel.
Es war eine kalte, klare Dezembernacht. Der Täter hatte mir schon Tage zuvor seine Regeln für diesen »Ausflug« mitgeteilt: »Wenn du schreist, bringe ich dich um. Wenn du rennst, bringe ich dich um. Ich töte jeden, der dich hört oder sieht, wenn du so dumm bist, auf dich aufmerksam zu machen.« Es genügte ihm nun nicht mehr, mir mit meinem eigenen Tod zu drohen. Er bürdete mir gleich die Verantwortung für alle auf, die ich zu Hilfe rufen könnte. Ich glaubte ihm seine Mordpläne sofort und ohne nachzudenken. Ich bin bis heute überzeugt, dass er dazu imstande gewesen wäre, einen unbedarften Nachbarn zu töten, der zufällig auf mich aufmerksam geworden wäre. Wer so viel auf sich nimmt, um sich eine Gefangene im Keller zu halten, schreckt auch vor Mord nicht zurück.
Als er mich mit festem Griff am Oberarm packte und die Tür zum Garten öffnete, erfasste mich ein tiefes Glücksgefühl. Die kühle Luft strich sanft über mein Gesicht und über meine Arme, und ich spürte, wie der Geruch von Fäulnis und Isolation, der sich in meiner Nase festgesetzt hatte, langsam wich und mein Kopf freier wurde. Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren spürte ich weichen Boden unter meinen Füßen. Jeder Grashalm, der sich unter meinen Sohlen bog, erschien mir wie ein wertvolles, einmaliges Lebewesen. Ich hob den Kopf und sah in den Himmel. Die unendliche Weite, die sich vor mir auftat, raubte mir den Atem. Der Mond stand schräg am Himmel, und ganz oben funkelten ein paar Sterne. Ich war draußen. Zum ersten Mal, seit ich am 2. März 1998 in einen Lieferwagen gezerrt worden war.
Weitere Kostenlose Bücher