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davon spreche, kann ich in den Gesichtern mancher Außenstehender Irritation und Ablehnung sehen. Die eben noch empathische Teilnahme an meinem Schicksal friert ein und wandelt sich in Abwehr. Menschen, die keinerlei Einblick in das Innere der Gefangenschaft haben, sprechen mir mit einem einzigen Wort die Urteilskraft über meine eigenen Erlebnisse ab: Stockholm-Syndrom.
»Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert« - so steht es im Lexikon. Eine kategorisierende Diagnose, die ich entschieden ablehne. Denn so mitleidsvoll die Blicke auch sein mögen, mit denen dieser Begriff aus dem Handgelenk geschüttelt wird, der Effekt ist grausam: Er macht das Opfer ein zweites Mal zum Opfer, indem er ihm die Interpretationshoheit über die eigene Geschichte nimmt - und die wichtigsten Erlebnisse darin zum Auswuchs eines Syndroms macht. Er rückt genau jenes Verhalten, das maßgeblich zum Überleben beiträgt, in die Nähe des Anrüchigen.
Die Annäherung an den Täter ist keine Krankheit. Sich im Rahmen eines Verbrechens einen Kokon der Normalität zu schaffen ist kein Syndrom. Im Gegenteil. Es ist eine Strategie des Überlebens in einer ausweglosen Situation - und realitätsgetreuer als jene platte Kategorisierung von Tätern als blutrünstige Bestien und Opfern als hilflose Lämmer, bei der die Gesellschaft gerne stehen bleibt.
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Wolfgang Priklopil war für die Außenwelt wohl ein schüchterner, höflicher Mann, der in seiner adretten Kleidung immer etwas zu jung wirkte. Er trug ordentliche Stoffhosen und gebügelte Hemden oder Polo-Shirts. Seine Haare waren immer frisch gewaschen und ordentlich frisiert, in einem Stil, der ein bisschen zu altmodisch für das beginnende neue Jahrtausend war. Für die wenigen Leute, mit denen er zu tun hatte, blieb er vermutlich unauffällig. Es war nicht leicht, hinter seine Fassade zu blicken, denn er wahrte sie hundertprozentig. Priklopil ging es dabei weniger um das Einhalten gesellschaftlicher Konventionen - er war ein Sklave der Fassade.
Er liebte Ordnung nicht nur, sie war für ihn überlebenswichtig. Unordnung, vermeintliches Chaos und Schmutz brachten ihn völlig aus dem Konzept. Er verwendete einen großen Teil seiner Zeit darauf, seine Autos - er hatte neben dem Lieferwagen noch einen roten BMW -, seinen Garten und sein Haus penibel sauber und gepflegt zu halten. Es genügte ihm nicht, wenn man nach dem Kochen putzte. Noch während die Speisen am Herd standen, musste die Arbeitsfläche gewischt, jedes Brettchen, jedes Messer, das man bei den Vorbereitungen benutzt hatte, abgespült werden.
Ebenso wichtig wie Ordnung waren Regeln. Priklopil konnte sich stundenlang in Bedienungsanleitungen vertiefen und hielt sich akribisch daran. Wenn auf einem Fertiggericht stand »vier Minuten wärmen«, dann nahm er es genau nach vier Minuten aus dem Backrohr - egal, ob es schon warm war oder nicht. Es muss ihn sehr bedrückt haben, dass er sein Leben nicht in den Griff bekam, obwohl er sich doch immer an alle Regeln hielt; so sehr, dass er eines Tages beschloss, eine ganz große Regel zu brechen und mich zu entführen. Aber obwohl er dadurch zum Verbrecher geworden war, hielt er seinen Glauben an Regeln, Anleitungen und Strukturen fast religiös aufrecht. Mich sah er manchmal nachdenklich an und sagte: »Wie dumm, dass es keine Bedienungsanleitung für dich gibt.« Es muss ihn völlig aus dem Konzept gebracht haben, dass seine neueste Anschaffung - ein Kind - nicht nach Plan funktionierte und er an manchen Tagen nicht wusste, wie er es wieder zum Laufen bringen konnte.
Am Anfang meiner Gefangenschaft hatte ich vermutet, dass der Täter ein Waisenkind war, das die mangelnde Nestwärme in der Kindheit zum Verbrecher gemacht hatte. Nun, als ich ihn besser kennenlernte, stellte ich fest, dass ich mir ein falsches Bild zurechtgelegt hatte. Er hatte eine behütete Kindheit in einer klassischen Familie. Vater, Mutter, Kind. Sein Vater Karl hatte als Vertreter für eine große Alkoholfirma gearbeitet und war viel auf Dienstreisen, auf denen er seine Frau anscheinend immer wieder betrogen hatte, wie ich später erfuhr. Aber die Fassade stimmte. Die Eltern blieben zusammen. Priklopil erzählte von Wochenendausflügen zum Neusiedlersee, von gemeinsamen Skiurlauben
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