3096 Tage
und Spaziergängen. Seine Mutter kümmerte sich liebevoll um ihren Sohn. Vielleicht ein bisschen zu liebevoll.
Je mehr Zeit ich oben im Haus verbrachte, umso seltsamer kam mir die über allem schwebende Präsenz der Mutter im Leben des Täters vor. Es dauerte einige Zeit, bis ich herausfand, wer die ominöse Person war, die das Haus an den Wochenenden blockierte und mich so zwang, zwei bis drei Tage allein im Verlies zu verbringen. Ich las den Namen »Waltraud Priklopil« auf den Briefen, die im Eingang lagen. Ich aß das Essen, das sie an den Wochenenden vorgekocht hatte. Ein Gericht für jeden Tag, an dem sie ihren Sohn allein ließ. Und wenn ich am Montag wieder ins Haus hinaufdurfte, bemerkte ich ihre Spuren: Alles war blitzblank geputzt. Kein Stäubchen deutete darauf hin, dass jemand darin wohnte. Jedes Wochenende schrubbte sie die Böden und staubte ab für ihren Sohn. Der wiederum ließ mich den Rest der Woche putzen. An den Donnerstagen trieb er mich wieder und wieder mit dem Putzlappen durch die Räume. Es musste alles schön glänzen, bevor die Mutter kam. Es war wie ein absurder Putzwettkampf zwischen Mutter und Sohn, den ich austragen musste. Dennoch freute ich mich nach den einsamen Wochenenden immer, wenn ich kleine Zeichen der Anwesenheit der Mutter entdeckte: gebügelte Wäsche, einen Kuchen in der Küche. Ich habe Waltraud Priklopil in all den Jahren nie gesehen, aber durch diese kleinen Zeichen wurde sie zu einem Teil meiner Welt. Ich stellte sie mir gerne als ältere Freundin vor und malte mir aus, dass ich eines Tages mit ihr am Küchentisch sitzen und eine Tasse Tee trinken könnte. Doch dazu ist es nie gekommen.
Priklopils Vater starb, als Wolfgang 24 Jahre alt war. Der Tod des Vaters muss ein großes Loch in sein Leben gerissen haben. Er sprach selten von ihm, aber man merkte, dass er den Verlust nie verarbeitet hatte. Ein Zimmer im Erdgeschoss des Hauses schien er zu seinem Gedenken unverändert zu bewahren. Es war ein Raum in ländlich-rustikalem Stil mit einer gepolsterten Eckbank und schmiedeeisernen Lampen - ein »Stüberl«, in dem früher wohl Karten gespielt und getrunken wurde, als der Vater noch lebte. Die Produktproben des Schnapsherstellers, für den er gearbeitet hatte, standen noch in den Regalen. Auch als der Täter später das Haus renovierte, ließ er diesen Raum unberührt.
Waltraud Priklopil dürfte vom Tod ihres Mannes ebenfalls hart getroffen worden sein. Ich möchte hier nicht über ihr Leben urteilen und Dinge hineininterpretieren, die vielleicht nicht stimmen. Ich habe sie schließlich nie getroffen. Aus meiner Perspektive wirkte es aber, als hätte sie sich nach dem Tod ihres Mannes noch mehr an ihren Sohn geklammert und ihn zu einem Partnerersatz gemacht. Priklopil, der zwischenzeitlich in einer eigenen Wohnung gelebt hatte, zog zurück ins Haus in Strasshof, wo er sich dem Einfluss seiner Mutter nicht entziehen konnte. Er rechnete ständig damit, dass sie seine Kleiderschränke und die Schmutzwäsche durchforsten würde, und achtete peinlich genau darauf, dass nirgendwo im Haus Spuren von mir zu finden waren. Und er richtete seinen Wochenrhythmus und seinen Umgang mit mir genau nach dem der Mutter aus. Ihre übertriebene Fürsorglichkeit und seine Anpassung hatten etwas Unnatürliches. Sie behandelte ihn nicht wie einen Erwachsenen, und er benahm sich nicht wie einer. Er wohnte im Haus seiner Mutter, die Priklopils Wohnung in Wien übernommen hatte, und ließ sich rundherum von ihr versorgen.
Ich weiß nicht, ob er nicht sogar von ihrem Geld gelebt hat. Seinen Job als Nachrichtentechniker bei Siemens, wo er in die Lehre gegangen war, hatte er schon vor meiner Entführung verloren. Danach war er wohl jahrelang arbeitslos gemeldet. Er erzählte mir manchmal, dass er, um das Arbeitsamt bei Laune zu halten, hin und wieder zu einem Vorstellungsgespräch gehen, sich dann aber absichtlich dumm stellen würde, um den Job nicht zu bekommen, gleichzeitig aber seine Bezüge nicht zu verlieren. Später half er, wie schon erwähnt, seinem Freund und Geschäftspartner Ernst Holzapfel bei Wohnungsrenovierungen. Auch Holzapfel, den ich nach meiner Selbstbefreiung aufgesucht habe, beschreibt Priklopil als korrekt, ordentlich, zuverlässig. Sozial zurückgeblieben vielleicht, er habe nie andere Freunde, geschweige denn eine Freundin gesehen. Aber auf jeden Fall unauffällig.
Dieser adrette junge Mann, unfähig, seiner Mutter gegenüber Grenzen zu ziehen, höflich zu den Nachbarn
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