3096 Tage
servierte, als er mich unvermittelt aufforderte: »Knie nieder!« Ich antwortete ruhig: »Nein. Das mache ich nicht.« Er sprang wütend auf und drückte mich auf den Boden. Ich machte eine schnelle Bewegung, um wenigstens auf dem Po zu landen, nicht auf den Knien. Er sollte nicht einmal eine Sekunde lang die Befriedigung erleben, mich vor ihm knien zu sehen. Er packte mich, drehte mich auf die Seite und verbog mir die Beine, als wäre ich eine Gummipuppe. Er presste meine Waden gegen die Oberschenkel, hob mich wie ein verschnürtes Paket vom Boden und versuchte, mich in kniender Stellung wieder nach unten zu drücken. Ich machte mich schwer und steif und wand mich verzweifelt in seinem Griff. Er boxte und trat. Aber am Ende behielt ich die Oberhand. Ich habe ihn kein einziges Mal in all den Jahren, in denen er es vehement von mir forderte, »Gebieter« genannt. Ich habe nie vor ihm gekniet.
Es wäre oft leichter gewesen nachzugeben, und ich hätte mir einige Schläge und Tritte erspart. Aber ich musste mir in dieser Situation der totalen Unterdrückung und der völligen Abhängigkeit vom Täter einen letzten Spielraum zum Handeln wahren. Die Rollen waren zwar klar verteilt, ich war als Gefangene unbestritten das Opfer. Doch dieses Ringen um das Wort »Gebieter« und um das Knien wurde zu einem Nebenschauplatz, auf dem wir wie in einem Stellvertreterkrieg um Macht rangen. Ich war ihm unterlegen, wenn er mich nach Belieben demütigte und misshandelte. Ich war ihm unterlegen, wenn er mich einsperrte, mir den Strom abdrehte und mich als Arbeitssklavin missbrauchte. Aber in diesem Punkt bot ich ihm die Stirn. Ich nannte ihn »Verbrecher«, wenn er wollte, dass ich »Gebieter« sagte. Ich sagte »Schnucki« oder »Schatzi« statt »mein Herr«, um ihm die groteske Situation vor Augen zu führen, in die er uns beide gebracht hatte. Er bestrafte mich jedes Mal dafür.
Es kostete mich unendlich viel Kraft, ihm gegenüber während der ganzen Zeit der Gefangenschaft konsequent zu bleiben. Immer dagegenhalten. Immer nein sagen. Mich immer gegen Übergriffe wehren und ihm ruhig erklären, dass er zu weit ging und kein Recht hatte, mich so zu behandeln. Selbst an Tagen, an denen ich mich schon aufgegeben hatte und mich völlig wertlos fühlte, konnte ich mir keine Schwäche leisten. An solchen Tagen sagte ich mir mit meiner kindlichen Sicht auf die Dinge, dass ich es für ihn tat. Damit er nicht ein noch böserer Menschen wurde. Als wäre es meine Aufgabe, ihn vor dem moralischen Absturz zu retten.
Wenn er seine Wutanfälle hatte und mich schlug und mit Tritten traktierte, konnte ich gar nichts ausrichten. Auch gegen die Zwangsarbeit, das Eingesperrtsein, den Hunger und die Demütigungen bei der Hausarbeit war ich machtlos. Diese Arten der Unterdrückung waren der Rahmen, in dem ich mich bewegte, sie waren ein integraler Bestandteil meiner Welt. Der für mich einzige Weg, damit umzugehen, war, dass ich ihm seine Taten verzieh. Ich habe ihm die Entführung verziehen und jedes einzelne Mal, wenn er mich schlug und misshandelte. Dieser Akt des Verzeihens gab mir Macht über das Erlebte zurück und ermöglichte mir, damit zu leben. Hätte ich nicht instinktiv von Anfang an diese Haltung angenommen, wäre ich wohl entweder an Wut und Hass zugrundegegangen - oder an den Erniedrigungen zerbrochen, denen ich täglich ausgesetzt war. Ich wäre auf eine Weise ausgelöscht worden, die viel schwerer gewogen hätte als die Aufgabe meiner alten Identität, meiner Vergangenheit, meines Namens. Durch das Verzeihen schob ich seine Taten von mir weg. Sie konnten mich nicht mehr kleinmachen und zerstören, ich hatte sie ja verziehen. Sie waren nur noch Bosheiten, die er begangen hatte und die auf ihn zurückfielen - nicht mehr auf mich.
Und ich hatte meine kleinen Siege: die Weigerung, »mein Gebieter«, »Maestro« oder »mein Herr« zu sagen. Die Weigerung zu knien. Meine Appelle an sein Gewissen, die manchmal auf fruchtbaren Boden fielen. Für mich waren sie überlebenswichtig. Sie gaben mir die Illusion, dass ich innerhalb gewisser Parameter ein gleichberechtigter Partner in dieser Beziehung war - weil sie mir eine Art der Gegenmacht über ihn gaben. Und das zeigte mir etwas ganz Wichtiges: nämlich dass ich noch als Person existierte und nicht zum willenlosen Objekt degradiert war.
* * *
Parallel zu seinen Unterdrückungsphantasien hegte Priklopil eine tiefe Sehnsucht nach einer heilen Welt. Auch für sie sollte ich, seine
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