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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft - selbst wenn sie um Hilfe bitten.
     
    ES GIBT ALPTRÄUME, aus denen man erwacht und weiß, dass alles nur ein Traum war. Während meiner ersten Zeit im Verlies klammerte ich mich an diese Möglichkeit des Erwachens und verbrachte viele der einsamen Stunden damit, meine ersten Tage in der Welt draußen vorauszuplanen. In dieser Zeit war die Welt, aus der ich gerissen worden war, noch real. Sie war mit echten Menschen bevölkert, von denen ich wusste, dass sie sich in jeder einzelnen Sekunde Sorgen um mich machten und alles daran setzten, mich zu finden. Ich konnte jedes Detail aus dieser Welt vor meinem inneren Auge entstehen lassen: meine Mutter, mein Kinderzimmer, meine Kleider, unsere Wohnung. Jene Welt, in der ich gelandet war, hatte hingegen die Farben und den Geruch des Irrealen.
    Der Raum war zu klein, die Luft zu muffig, um wirklich zu sein. Der Mann, der mich entfuhrt hatte, war taub gegenüber meinen Argumenten, die aus der Welt draußen stammten: dass man mich finden würde. Dass er mich gehen lassen müsse. Dass das, was er mir antat, ein schweres Verbrechen sei, das bestraft werden würde. Und doch stellte sich Tag für Tag mehr heraus, dass ich in dieser Unterwelt gefangen war und den Schlüssel zu meinem Leben längst nicht mehr in meiner Hand hielt. Ich sträubte mich dagegen, in dieser unheimlichen Umgebung heimisch zu werden, der Phantasie eines Verbrechers entsprungen, der jedes kleinste Detail selbst entworfen und mich wie einen dekorativen Einrichtungsgegenstand mitten hineingesetzt hatte.
    Aber man lebt nicht ewig in einem Alptraum. Der Mensch hat die Fähigkeit, selbst in den abnormalsten Situationen einen Anschein von Normalität zu schaffen, um sich nicht zu verlieren. Um zu überleben. Kindern gelingt das manchmal besser als Erwachsenen. Ihnen kann der kleinste Strohhalm genügen, um nicht zu ertrinken. Für mich waren diese Strohhalme Rituale wie die gemeinsamen Mahlzeiten, das inszenierte Weihnachtsfest oder meine kleinen Fluchten in die Welt der Bücher, Videos und Fernsehserien. Das waren Momente, die nicht nur düster waren, auch wenn ich heute weiß, dass mein Empfinden letztlich einem psychischen Mechanismus entsprang. Man würde verrückt, wenn man über Jahre hinweg nur das Grauen sieht. Die kleinen Augenblicke der vermeintlichen Normalität sind es, an die man sich klammert, die einem das Überleben sichern. In meinen Aufzeichnungen findet sich eine Stelle, in der diese Sehnsucht nach Normalität besonders deutlich wird:
     
    Liebes Tagebuch!
    Ich schrieb deshalb so lange nichts in dich wegen einer schweren Depressionsphase. Also berichte ich jetzt kurz, was bisher geschah. Im Dezember klebten wir die Fliesen an, aber den Spülkasten montierten wir erst Anfang Jänner. Den Silvester verbrachte ich so: Ich schlief oben vom 30. bis 31. 12., dann war ich den ganzen Tag allein. Er kam aber kurz vor Mitternacht. Er duschte sich, wir gossen Blei. Um Mitternacht schalteten wie den Fernseher an und hörten uns die Pummerin an und den Wiener Donauwalzer. Währenddessen stießen wir an und sahen beim Fenster hinaus, um die Feuerwerke zu bewundern. Mir wurde die Freude aber verdorben. Als eine Rakete in unseren Nadelbaumflog, zwitscherte es plötzlich auf, und ich bin sicher, dass es ein kleiner Vogel war, der zu Tode erschrocken ist. Ich bin es jedenfalls, als ich den kleinen Piepmatz aufzwitschern hörte. Ich gab ihm den Rauchfangkehrer, den ich für ihn gebastelt hatte, und ergab mir einen Schokotaler, Schokokekse, einen Minischokorauchfangkehrer. Er hatte mir einen Tag vorher schon einen Kuchen-Rauchfangkehrer geschenkt. In meinem Rauchfangkehrer waren Smarties, nein Mini-MMs, die ich Wolfgang schenkte.
     
    Nichts ist nur schwarz und nur weiß. Und niemand ist nur gut und nur böse. Das gilt auch für den Entführer. Das sind Sätze, die man von einem Entführungsopfer nicht gerne hört. Denn hier kippt das klar definierte Schema von Gut und Böse, dem die Menschen nur zu bereitwillig folgen, um in einer Welt voller Grauschattierungen nicht die Orientierung zu verlieren. Wenn ich

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