3096 Tage
Nabelschnur in die Welt, die Moderatoren zu meinen Freunden. Ich konnte genau sagen, wann jemand Urlaub machte oder in Pension ging. Über die Sendungen, die im Kulturradio Ol liefen, versuchte ich mir ein Bild von der Welt draußen zu machen. Mit FM4 lernte ich etwas Englisch. Wenn ich drohte, den Bezug zur Realität zu verlieren, retteten mich banale Sendungen im O3-Wecker, in denen Menschen von ihren Arbeitsplätzen aus anriefen und sich Musik für den Vormittag wünschten. Manchmal hatte ich das Gefühl, auch das Radio sei Teil einer Inszenierung, die der Täter rund um mich aufgebaut hatte und in der alle mitspielten - Moderatoren, Anrufer und Nachrichtensprecher eingeschlossen. Aber wenn dann etwas Überraschendes aus dem Lautsprecher kam, holte mich das wieder auf den Boden.
Das Radio war vielleicht mein wichtigster Begleiter in diesen Jahren. Es vermittelte mir die Sicherheit, dass es neben meinem Martyrium im Keller eine Welt gab, die sich weiter drehte - und in die es sich lohnte, eines Tages zurückzukehren.
Meine zweite große Leidenschaft wurde Science-Fiction. Ich las Hunderte Perry-Rhodan- und Orion-Hefte, in denen die Helden durch ferne Galaxien reisten. Die Möglichkeit, von einem Augenblick zum nächsten Raum, Zeit und Dimension zu wechseln, faszinierte mich zutiefst. Als ich mit zwölf einen kleinen Thermo-Papier-Drucker bekam, begann ich, selbst einen Science-Fiction-Roman zu schreiben. Die Figuren waren an die Mannschaft der Enterprise (Next Generation) angelehnt, aber ich verwendete viele Stunden und viel Mühe darauf, besonders starke, selbstbewusste und unabhängige Frauencharaktere auszuarbeiten. Das Erfinden von Geschichten rund um meine Figuren, die ich mit den abenteuerlichsten technischen Neuerungen ausstattete, rettete mich über Monate hinweg durch die dunklen Nächte im Verlies. Die Worte wurden für Stunden zu einer schützenden Hülle, die sich um mich legte und in der mir nichts und niemand etwas anhaben konnte. Heute sind von meinem Roman nur leere Seiten geblieben. Noch während meiner Gefangenschaft wurden die Buchstaben auf dem Thermopapier immer blasser, bis sie ganz verschwanden.
* * *
Es müssen wohl die vielen Serien und Bücher voller Zeitreisen gewesen sein, die mich auf die Idee brachten, selbst eine solche Zeitreise zu unternehmen. An einem Wochenende, ich war gerade zwölf, packte mich das Gefühl der Einsamkeit so stark, dass ich Angst hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich war schweißgebadet aufgewacht und in völliger Dunkelheit vorsichtig die schmale Leiter meines Hochbetts nach unten gestiegen. Die freie Bodenfläche im Verlies war auf zwei oder drei Quadratmeter zusammengeschrumpft. Ich taumelte orientierungslos im Kreis herum, stieß immer wieder gegen Tisch und Regal. Out of Space. Allein. Ein geschwächtes, hungriges und verängstigtes Kind. Ich sehnte mich nach einem Erwachsenen, nach einem Menschen, der mich rettete. Aber es wusste ja niemand, wo ich war. Die einzige Möglichkeit, die ich hatte, war, mir selbst dieser Erwachsene zu sein.
Ich hatte früher schon Trost darin gefunden, mir vorzustellen, wie meine Mutter mir Mut zusprach. Wie ich in ihre Rolle schlüpfte und versuchte, ein bisschen von ihrer Stärke auf mich zu übertragen. Nun stellte ich mir die erwachsene Natascha vor, die mir half. Mein eigenes Leben lag vor mir wie ein leuchtender Zeitstrahl, der weit in die Zukunft reichte. Ich selbst stand auf Ziffer zwölf. Weit vor mir aber sah ich mein eigenes 18-jähriges Ich. Groß und stark, selbstbewusst und unabhängig wie die Frauen in meinem Roman. Mein zwölfjähriges Ich bewegte sich auf dem Strahl langsam nach vorne, mein erwachsenes Ich kam mir entgegen. In der Mitte reichten wir uns die Hand. Die Berührung war warm und weich und gleichzeitig fühlte ich, wie sich die Kraft meines großen Ich auf das kleine übertrug. Die große Natascha nahm die kleine, der nicht einmal ihr Name geblieben war, in den Arm und tröstete sie. »Ich werde dich da rausholen, das verspreche ich dir. Jetzt kannst du nicht fliehen, du bist noch zu klein. Aber mit 18 werde ich den Täter überwältigen und dich aus dem Gefängnis holen. Ich lasse dich nicht allein.«
In dieser Nacht schloss ich einen Vertrag mit meinem eigenen, späteren Ich. Ich habe mein Wort gehalten.
Zwischen Wahn und heiler Welt
Die zwei Gesichter des Täters
Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein
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