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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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und ordentlich bis zur Pedanterie, wahrte also nach außen die Fassade. Seine unterdrückten Gefühle packte er in den Keller und ließ sie später ab und zu in die verdunkelte Küche. Dorthin, wo ich war.
    Ich bekam zwei Seiten des Wolfgang Priklopil zu spüren, die sonst wohl niemand kannte. Die eine war ein starker Hang zu Macht und Unterdrückung. Die andere war ein schier unstillbares Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung. Um diese beiden widersprüchlichen Seiten ausleben zu können, hatte er mich entführt und »geformt«.
     
    * *  *
     
    Wer sich, zumindest auf dem Papier, hinter dieser Fassade verbarg, erfuhr ich irgendwann im Jahr 2000. »Du kannst mich Wolfgang nennen«, meinte er eines Tages lapidar beim Arbeiten. »Wie heißt du denn ganz?«, fragte ich zurück. »Wolfgang Priklopil«, antwortete er. Es war der Name, den ich in der ersten Woche meiner Gefangenschaft auf der Visitenkarte gesehen hatte. Der Name, den ich bei meinen Besuchen oben im Haus auf den adressierten Prospekten gesehen hatte, die er ordentlich auf dem Küchentisch stapelte. Nun hatte ich die Bestätigung. Zugleich wusste ich mit diesem Moment, dass der Täter nun endgültig davon ausging, dass ich sein Haus nicht lebend verlassen würde. Er hätte mir seinen vollständigen Namen sonst niemals anvertraut.
    Von da an nannte ich ihn manchmal Wolfgang oder »Wölfl« - eine Form, die eine gewisse Nähe vorgaukelte, während gleichzeitig sein Umgang mit mir eine neue Stufe der Gewalt erreichte. Im Rückblick scheint es mir, als hätte ich versucht, den Menschen dahinter zu erreichen, während der Mensch, der vor mir stand, mich systematisch quälte und misshandelte.
    Priklopil war psychisch sehr krank. Seine Paranoia ging selbst über das Maß hinaus, das jemandem ansteht, der ein entführtes Kind im Keller versteckt. Seine Allmachtsphantasien mischten sich mit Wahnvorstellungen. In einigen davon spielte er die Rolle des uneingeschränkten Herrschers.
    So erklärte er mir eines Tages, er sei einer der ägyptischen Götter aus der Science-Fiction-Serie »Stargate«, die ich so gerne sah. Die »Bösen« unter den Außerirdischen waren ägyptischen Göttern nachempfunden, die sich junge Männer als Wirte suchten. Sie drangen durch Mund oder Nacken in den Körper ein, lebten als Parasiten in ihm und übernahmen ihren Wirt schließlich ganz. Diese Götter hatten ein bestimmtes Schmuckstück, mit dem sie die Menschen in die Knie zwingen und demütigen konnten. »Ich bin ein ägyptischer Gott«, sagte Priklopil eines Tages im Verlies zu mir, »du musst mir in allem folgen.«
    Ich konnte im ersten Moment nicht einordnen, ob es ein seltsamer Scherz war oder ob er eine meiner Lieblingsserien dazu verwenden wollte, mich zu mehr Demut zu zwingen. Ich vermute aber eher, dass er sich zwischenzeitlich tatsächlich für einen Gott hielt, in dessen wahnhafter Phantasiewelt mir nur die Rolle der Unterdrückten blieb, um ihn dadurch gleichzeitig zu erhöhen.
    Seine Anspielungen auf ägyptische Götter machten mir Angst. Ich war ja tatsächlich unter der Erde gefangen wie in einem Sarkophag: lebendig begraben in einem Raum, der zu meiner Grabkammer hätte werden können. Ich lebte in der krankhaften Wahnwelt eines Psychopathen. Wenn ich nicht untergehen wollte, musste ich sie mitgestalten, so gut es ging. Schon als er mich aufgefordert hatte, ihn »Maestro« zu nennen, hatte ich an seiner Reaktion gespürt, dass ich nicht nur ein Spielball seines Willens war, sondern selbst bescheidene Möglichkeiten hatte, Grenzen zu setzen. Ähnlich wie der Täter in mir eine Wunde geschlagen hatte, in die er über Jahre hinweg das Gift, meine Eltern hätten mich im Stich gelassen, träufelte, fühlte ich, dass ich ein paar winzige Salzkörner in Händen hielt, die für ihn ebenfalls schmerzhaft sein könnten. »Nenn mich »nein Gebieten!«. Es war absurd, dass Priklopil, dessen Machtposition auf den ersten Blick so offensichtlich war, auf diese verbale Demutsbezeugung so angewiesen war.
    Als ich mich weigerte, ihn »Gebieter« zu nennen, schrie und tobte er, mehr als einmal hat er mich deswegen geschlagen. Aber durch mein Verhalten habe ich nicht nur das bisschen eigener Würde gewahrt, sondern auch einen Hebel gefunden, den ich bedienen konnte. Auch wenn ich dafür mit unendlichen Schmerzen bezahlte.
    Die gleiche Situation erlebte ich, als er mich das erste Mal aufforderte, vor ihm zu knien. Er saß auf dem Sofa und wartete darauf, dass ich ihm etwas zu essen

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