3096 Tage
Garten der Nachbarn, zog mich aus und glitt ins Wasser.
Es war wie eine Wiedergeburt. Während ich untertauchte, fielen die Gefangenschaft, das Verlies, die Unterdrückung für einen Augenblick von mir ab. Der Stress löste sich im kühlen, blauen Nass auf. Ich tauchte auf und ließ mich auf der Wasseroberfläche treiben. Die kleinen türkisfarbenen Wellen funkelten in der Sonne. Über mir spannte sich ein unendlicher, hellblauer Himmel. Meine Ohren waren unter Wasser, um mich herum war nichts als leises Plätschern.
Als mich der Täter nervös aufforderte, aus dem Wasser zu kommen, dauerte es ein wenig, bis ich reagieren konnte. Es war, als müsste ich von einem weit entfernten Ort zurückkehren. Ich folgte Priklopil ins Haus, über die Küche in den Vorraum, von dort in die Garage und hinunter zum Verlies. Dann ließ ich mich wieder einsperren. Für lange Zeit hatte ich wieder nur die Glühbirne, gesteuert von der Zeitschaltuhr, als einzige Lichtquelle. Es blieb vorerst bei diesem einen Mal - er hat mich danach lange nicht mehr in den Pool gelassen. Aber dieses eine Mal genügte, um mich daran zu erinnern, dass ich bei aller Verzweiflung und Kraftlosigkeit doch ein Leben wollte. Die Erinnerung an diesen Moment zeigte mir, dass es sich lohnte durchzuhalten, bis ich mich selbst befreien konnte.
* * *
Ich war dem Täter damals für solche kleinen Wohltaten wie das Sonnenbad oder den Besuch im Pool der Nachbarn unendlich dankbar. Und ich bin es heute noch. Ich kann - auch wenn es befremdlich sein mag - anerkennen, dass es bei all dem Martyrium auch kleine menschliche Augenblicke in meiner Zeit der Gefangenschaft gab. Auch für den Täter galt, dass er sich dem Einfluss des Kindes und jungen Mädchens, mit dem er so viele Stunden verbrachte, nicht vollständig entziehen konnte. Ich klammerte mich damals an jeden noch so winzigen menschlichen Zug, weil ich darauf angewiesen war, das Gute zu sehen in einer Welt, an der ich ja nichts ändern konnte. An einem Täter, mit dem ich einfach umgehen musste, weil ich nicht fliehen konnte. Es gab diese Momente und ich schätzte sie. Momente, in denen er mich etwa beim Malen, Zeichnen oder Basteln unterstützte und mich ermunterte, immer wieder von vorne zu beginnen, wenn mir etwas nicht gelang. Indem er mit mir den Schulstoff, den ich versäumte, durchging und mir Rechenaufgaben stellte, die darüber hinausgingen, auch wenn er hinterher mit besonderer Freude den Rotstift zückte und es ihm bei Aufsätzen nur um Grammatik und Rechtschreibung ging. Regeln müssen eingehalten werden. Aber er war da. Er nahm sich Zeit, die ich im Übermaß hatte.
Mir ist es gelungen, durch unbewusstes Wegdrücken und Abspalten des Grauens zu überleben. Und ich habe durch diese schrecklichen Erfahrungen, die ich während meiner Gefangenschaft gemacht habe, gelernt, stark zu sein. Ja, vielleicht sogar eine Stärke zu entwickeln, zu der ich in Freiheit nie fähig gewesen wäre.
Heute, Jahre nach meiner Selbstbefreiung, bin ich mit solchen Sätzen vorsichtig geworden. Dass im Bösen zumindest in kurzen Augenblicken Normalität, ja sogar gegenseitiges Verständnis möglich ist. Das ist es, was ich meine, wenn ich davon spreche, dass es weder in der Realität noch in Extremsituationen entweder Schwarz oder Weiß gibt, sondern winzige Abstufungen den Unterschied machen. Für mich waren diese Nuancen entscheidend. Indem ich Stimmungsschwankungen rechtzeitig erspürte, entging ich vielleicht einer Misshandlung. Indem ich immer wieder an das Gewissen des Täters appellierte, verschonte er mich vielleicht mit Schlimmerem. Indem ich ihn als Mensch sah, mit einer sehr dunklen und einer etwas helleren Seite, konnte ich selbst Mensch bleiben. Weil er mich so nicht brechen konnte.
Es mag sein, dass ich mich auch deshalb so vehement dagegen wehre, in die Schublade des Stockholm-Syndroms gesteckt zu werden. Der Begriff wurde nach einem Überfall auf eine Bank in Stockholm im Jahr 1973 erfunden. Fünf Tage lang hatten die Täter vier der Angestellten als Geiseln genommen. Zum Erstaunen der Medien zeigte sich bei der Befreiung, dass die Gefangenen mehr Angst vor der Polizei hatten als vor ihren Geiselnehmern - und dass sie durchaus Verständnis für diese entwickelt hatten. Manche der Opfer baten um Gnade für die Täter und besuchten sie im Gefängr.is. Die Öffentlichkeit hatte für diese »Sympathie« mit den Tätern kein Verständnis - und pathologisierte das Verhalten der Opfer. Den Täter zu
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