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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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unweigerlich aufgewacht und hätte meinen Fluchtversuch sofort bemerkt. Heute weiß ich, dass auch die Polizei bei Verhaftungen Kabelbinder einsetzt. Sie sind mit der Muskelkraft einer hungernden 14-Jährigen ohnehin nicht zu sprengen.
    So lag ich, an meinen Entführer gefesselt, das erste Mal von vielen in diesem Bett. Am darauffolgenden Morgen musste ich mit dem Täter frühstücken. Sosehr ich dieses Ritual als Kind gemocht hatte - jetzt wurde mir übel von der Verlogenheit, mit der er mich zwang, mit ihm am Küchentisch zu sitzen und Milch zu trinken, dazu zwei Esslöffel Müsli, keinen Bissen mehr. Heile Welt, als wäre nichts geschehen.
    In diesem Sommer versuchte ich das erste Mal, mir das Leben zu nehmen.
     
    * *  *
     
    Fluchtgedanken hatte ich in dieser Phase der Gefangenschaft keine mehr. Mit 15 war mein psychisches Gefängnis fertig gebaut. Die Tür des Hauses hätte weit offenstehen können: Ich hätte keinen Schritt tun können. Flucht, das war der Tod. Für mich, für ihn, für alle, die mich hätten sehen können.
    Es ist nicht leicht zu erklären, was die Isolation, die Schläge, die Demütigungen in einem Menschen anrichten. Wie einen nach den vielen Misshandlungen schon das Geräusch einer Tür so in Panik versetzen kann, dass man nicht mehr atmen, geschweige denn laufen kann. Wie das Herz schneller schlägt, das Blut in den Ohren rauscht und dann plötzlich ein Schalter im Hirn kippt und man nur noch Lähmung verspürt. Man ist unfähig zu handeln, der Verstand setzt aus. Das Gefühl der Todesangst ist unauslöschlich gespeichert, alle Details der Situation, in der man sie zum ersten Mal verspürt hat - Gerüche, Geräusche, Stimmen -, sind fest im Unterbewusstsein verankert. Taucht eines davon wieder auf, eine erhobene Hand, ist die Angst wieder da. Ohne dass sich die Hand um die Kehle legt, fühlt man sich ersticken.
    So wie Überlebende von Bombenangriffen von einem Silvesterböller in Panik versetzt werden können, erging es mir mit tausend Kleinigkeiten. Das Geräusch, wenn ich hörte, wie die schweren Türen zu meinem Verlies geöffnet wurden. Das Klappern des Ventilators. Dunkelheit. Grelles Licht. Der Geruch oben im Haus. Der Luftzug, bevor seine Hand auf mich niederfuhr. Seine Finger um meinen Hals, sein Atem in meinem Nacken. Der Körper ist auf Überleben geschaltet und reagiert, indem er sich selbst lähmt. Irgendwann ist die Traumatisierung so gewaltig, dass selbst die Außenwelt keine Rettung mehr verspricht, sondern zu einem bedrohlichen, mit Angst besetzten Terrain wird.
    Es mag sein, dass der Täter wusste, was in mir vorging. Dass er spürte, dass ich nicht fliehen würde, als er mich in jenem Sommer zum ersten Mal tagsüber in den Garten ließ. Schon einige Zeit vorher hatte er mir kurze Sonnenbäder ermöglicht: Im unteren Stockwerk gab es ein Zimmer mit Fenstern bis zum Boden, das von allen Seiten uneinsehbar war, wenn er eine Jalousie schloss. Dort durfte ich mich auf eine Liege legen und von der Sonne bescheinen lassen. Für den Täter war es wohl eine Art »Wartungsmaßnahme«: Er wusste, dass ein Mensch ohne Sonnenlicht nicht ewig überleben kann, und achtete deshalb darauf, dass ich hin und wieder etwas davon abbekam. Für mich war es eine Offenbarung.
    Das Gefühl der warmen Strahlen auf meiner blassen Haut war unbeschreiblich. Ich schloss die Augen. Die Sonne zeichnete rote Kringel hinter meine Lider. Ich dämmerte langsam weg und träumte mich in ein Freibad, hörte die fröhlichen Kinderstimmen und spürte das Wasser, wie es kühl die Haut umspült, wenn man aufgeheizt hineinspringt. Was hätte ich darum gegeben, einmal schwimmen zu gehen! So wie der Täter, der ab und zu in seiner Badehose im Verlies auftauchte. Die Nachbarn, entfernte Verwandte der Priklopils, hatten den gleichen Swimmingpool wie er im Garten - nur war ihrer eingelassen und konnte benutzt werden. Wenn sie nicht da waren und der Täter bei ihnen nach dem Rechten sah oder die Blumen goss, schwamm er manchmal eine Runde. Ich beneidete ihn zutiefst.
    Eines Tages in diesem Sommer überraschte er mich mit der Nachricht, dass ich mit ihm zum Schwimmen kommen dürfe. Die Nachbarn waren nicht zu Hause, und da die Gärten der beiden Häuser durch einen Weg verbunden waren, konnte man zum Pool gelangen, ohne von der Straße aus gesehen zu werden.
    Das Gras kitzelte unter meinen nackten Füßen, der Morgentau glitzerte wie kleine Diamanten zwischen den Halmen. Ich folgte ihm über den schmalen Weg in den

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