3096 Tage
Jahren hatte ich niemanden diesen Namen aussprechen hören. Der einzige Mensch, der ihn hätte sagen können, hatte mir meinen Namen verboten. Der Sprecher im Radio erwähnte ihn im Zusammenhang mit einem neuen Buch von Kurt Totzer und Günther Kallinger. Der Titel lautete: »Spurlos - die spektakulärsten Vermisstenfalle der Interpol«. Die Autoren sprachen über ihre Recherchen - und über mich. Eine mysteriöser Fall, in dem es keine heiße Spur gebe und keine Leiche. Ich saß vor dem Radio und wollte nur noch schreien: Hier bin ich! Ich lebe! Aber es konnte mich niemand hören.
* * *
Nach dieser Sendung erschien mir meine eigene Situation so ausweglos wie noch nie. Ich saß auf meinem Bett und sah plötzlich alles ganz klar vor Augen. Ich konnte nicht mein ganzes Leben so verbringen, das wusste ich. Ich wusste auch, dass ich nicht mehr befreit werden würde, und eine Flucht erschien mir völlig unmöglich. Es gab nur einen Ausweg.
Es war nicht der erste Selbstmordversuch, den ich an jenem Tag unternahm. Einfach zu verschwinden, in ein entferntes Nichts, in dem es keinen Schmerz und keine Gefühle mehr gibt, das hielt ich damals für einen Akt der Selbstermächtigung. Ich hatte ja sonst kaum Verfügungsgewalt über mein Leben, meinen Körper, meine Handlungen. Mir dieses Leben selbst nehmen zu können erschien mir als der letzte Trumpf.
Mit 14 hatte ich mehrere Male erfolglos versucht, mich mit Hilfe von Kleidungsstücken zu strangulieren. Mit 15 wollte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Ich hatte mir mit einer großen Nähnadel die Haut aufgeritzt und so lange weitergebohrt, bis ich es nicht mehr aushielt. Mein Arm brannte fast unerträglich, aber gleichzeitig linderte es den inneren Schmerz, den ich empfand. Es ist manchmal leichter, wenn körperlicher Schmerz die seelischen Qualen für kurze Momente übertönt.
Diesmal wollte ich eine andere Methode wählen. Es war einer jener Abende, an denen mich der Täter früh in das Verlies gesperrt hatte, und ich wusste, dass er bis zum nächsten Tag nicht mehr kommen würde. Ich räumte mein Zimmer auf, legte die wenigen T-Shirts ordentlich zusammen und warf einen letzten Blick auf das Flanellkleid, in dem er mich entfuhrt hatte und das nun an einem Haken unter dem Bett hing. In Gedanken verabschiedete ich mich von meiner Mutter. »Verzeih mir, dass ich gehe. Und dass ich wieder ohne ein Wort gehe«, flüsterte ich. Was soll schon passieren?
Dann ging ich langsam zur Kochplatte und schaltete sie an. Als sie zu glühen begann, legte ich leere Klorollen und Papier darauf. Es dauerte einige Zeit, bis das Papier anfing zu rauchen - aber es funktionierte. Ich stieg die Leiter zu meinem Bett hoch und legte mich hin. Das Verlies würde sich mit Rauch füllen, und ich würde ganz sanft wegdämmern, selbstbestimmt, aus einem Leben, das schon lange nicht mehr meines war.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Bett lag und auf den Tod wartete. Es schien mir wie die Ewigkeit, auf die ich mich gerade einstellte. Aber vermutlich ging es relativ schnell. Als der beißende Qualm meine Lungen erreichte, atmete ich zunächst ganz tief ein. Doch dann drängte mein verloren geglaubter Überlebenswille mit voller Macht nach oben. Jede Faser meines Körpers war auf Flucht eingestellt. Ich begann zu husten, hielt mir mein Kopfkissen vor den Mund und stürmte die Leiter hinunter. Ich drehte den Wasserhahn auf, hielt Putztücher unter den Wasserstrahl und warf sie auf die schwelenden Kartonrollen auf der Platte. Das Wässer zischte, der beißende Rauch wurde dichter. Hustend und mit tränenden Augen wedelte ich mit meinem Handtuch im Raum herum, um den Rauch zu verteilen. Ich überlegte fieberhaft, wie ich den Versuch, mich durch ein Feuer zu ersticken, vor dem Täter verbergen konnte. Selbstmord, die ultimative Ungehorsamkeit, das schlimmste denkbare Vergehen.
Aber noch am nächsten Morgen roch es wie in einer Räucherkammer. Als Priklopil ins Verlies kam, sog er irritiert die Luft ein. Er zerrte mich aus dem Bett, schüttelte mich und brüllte mich an. Wie ich es wagen könne, mich ihm zu entziehen! Wie ich es wagen könne, sein Vertrauen so zu missbrauchen. In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus grenzenloser Wut und Angst. Der Angst davor, ich könne alles kaputtmachen.
Angst vor dem Leben
Das innere Gefängnis steht
Fausthiebe und Tritte, würgen, kratzen, Handgelenk prellen, abquetschen desselbigen, gegen Türrahmen gestoßen. Mit Hammer und mit
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