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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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kannte, die mir aber völlig fremd geworden war. Das helle Licht, in das alles getaucht war, wirkte, als käme es von einem riesigen Scheinwerfer. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass der Täter das alles arrangiert hatte. Das war sein Filmset, seine große Truman-Show, die Leute waren alle Statisten, alles war nur inszeniert, um mir vorzugaukeln, dass ich draußen war. Während ich in Wirklichkeit nur in einer erweiterten Zelle gefangen blieb. Dass es mein eigenes, psychisches Gefängnis war, in dem ich steckte, habe ich erst später begriffen.
    Wir verließen Strasshof, fuhren eine Weile über Land und hielten in einem kleinen Wald. Ich durfte kurz aus dem Auto aussteigen. Die Luft roch würzig nach Holz, und unter mir huschten Sonnenflecken über die trockenen Föhrennadeln. Ich ging in die Knie und legte vorsichtig eine Hand auf den Boden. Die Nadeln pieksten und hinterließen rote Pünktchen auf meinem Handballen. Ich ging ein paar Schritte zu einem Baum und legte die Stirn an die Rinde. Die rissige Borke war warm von der Sonne und verströmte einen intensiven Geruch nach Harz. Genauso wie die Bäume meiner Kindheit.
    Auf dem Rückweg sagte keiner von uns ein Wort. Als der Täter mich in der Garage aus dem Auto ließ und mich ins Verlies sperrte, fühlte ich eine tiefe Traurigkeit in mir hochsteigen. Ich hatte mich so lange auf die Welt draußen gefreut, hatte mir in den schönsten Farben ausgemalt, wie sie sich anfühlen würde. Und nun bewegte ich mich durch sie wie durch eine Scheinwelt. Meine Realität war die Birkentapete in der Küche, das war die Umgebung, in der ich wusste, wie ich mich zu bewegen hatte. Hier draußen stolperte ich herum wie im falschen Film.
     
    * *  *
     
    Dieser Eindruck legte sich langsam, als ich das nächste Mal rausdurfte. Der Täter war durch meine demütige, schreckhafte Haltung bei meinen ersten Gehversuchen außerhalb des Hauses mutiger geworden. Schon einige Tage später nahm er mich in den Drogeriemarkt des Ortes mit. Er hatte mir versprochen, dass ich mir dort etwas Schönes aussuchen durfte. Der Täter parkte das Auto vor dem Geschäft und zischte mir noch einmal zu: »Kein Wort. Sonst sterben alle da drin.« Dann stieg er aus, ging um den Wagen herum und hielt mir die Tür auf.
    Ich ging vor ihm in das Geschäft hinein. Ich hörte ihn dicht hinter mir leise atmen und stellte mir vor, wie er die Hand in der Jackentasche um eine Pistole schloss, um alle zu erschießen, wenn ich nur eine einzige falsche Bewegung machte. Aber ich würde brav sein. Ich würde niemanden gefährden, ich würde nicht fliehen, ich wollte nichts als einen kleinen Schnipsel des Lebens erhaschen, das für andere Mädchen in meinem Alter selbstverständlich war: in einem Drogeriemarkt durch die Kosmetikabteilung zu gehen. Ich durfte mich zwar nicht schminken - der Täter gestattete mir ja nicht einmal normale Kleidung -, aber ein Zugeständnis hatte ich ihm abringen können. Zwei Artikel, die zu einem normalen Teenagerleben gehörten, durfte ich mir aussuchen. Wimperntusche war nach meiner Vorstellung ein unbedingtes Muss. Das hatte ich in den Mädchenzeitschriften gelesen, die er mir ab und zu ins Verlies brachte. Ich hatte die Seiten mit den Schminktipps wieder und wieder angesehen und mir dabei vorgestellt, wie ich mich selbst für meinen ersten Besuch in der Disco schönmachen würde. Lachend und prustend mit meinen Freundinnen vor dem Spiegel, erst in die eine Bluse schlüpfen, dann doch in die andere, sitzen die Haare? Kommt, wir müssen los!
    Und da stand ich nun zwischen den langen Regalen mit unzähligen Fläschchen und Döschen, die ich nicht kannte, die mich magisch anzogen, aber gleichzeitig verunsicherten. Es waren so viele Eindrücke, ich wusste nicht wohin und hatte Angst, ich könnte etwas herunterwerfen.
    »Los! Beeil dich!«, hörte ich die Stimme hinter mir. Ich nahm hastig ein Röhrchen mit Wimperntusche, dann suchte ich mir aus einem kleinen Holzregal mit Aromaölen ein Fläschchen Minzöl aus. Ich wollte es offen in mein Verlies stellen, in der Hoffnung, es würde den schimmligen Geruch überdecken. Die ganze Zeit über blieb der Täter dicht hinter mir. Es machte mich nervös, ich kam mir vor wie eine Verbrecherin, die noch nicht erkannt worden war, aber jederzeit auffliegen konnte. Ich bemühte mich, so kontrolliert wie möglich zur Kasse zu gehen. Eine dickliche Frau saß dahinter, wohl um die fünfzig Jahre alt, die grauen Locken etwas schief gewickelt. Als sie mich

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