3096 Tage
sollte ich ansprechen? Und was sollte ich überhaupt sagen? Ich musterte jeden, der im Gang stand, aus den Augenwinkeln. Doch je länger ich sie ansah, umso mehr verzerrten sich die Gesichter der Menschen zu Fratzen. Sie erschienen mir plötzlich feindselig und unfreundlich. Grobschlächtige Menschen, mit sich selbst beschäftigt und blind für ihre Umwelt. Meine Gedanken rasten. Es kam mir mit einem Mal völlig absurd vor, jemanden um Hilfe zu bitten. Wer würde mir schon glauben - einem mageren, verwirrten Teenager, der kaum seine eigene Stimme benutzen konnte? Was würde geschehen, wenn ich mich an einen dieser Männer wenden würde mit dem Satz: »Bitte helfen Sie mir?«
»Das hat meine Nichte öfter, die Ärmste, sie ist leider verwirrt - sie braucht ihre Medikamente«, würde Priklopil wohl sagen, und rundherum würde man verständnisvoll nicken, wenn er mich am Oberarm packen und aus dem Baumarkt zerren würde. Für einen Moment hätte ich in irrsinniges Gelächter ausbrechen können. Der Täter würde überhaupt niemanden umbringen müssen, um sein Verbrechen zu decken! Alles hier spielte ihm perfekt in die Hände. Niemand interessierte sich für mich. Niemand würde auf die Idee kommen, dass es die Wahrheit war, wenn ich sagte: »Helfen Sie mir, ich wurde entführt.« Versteckte Kamera, haha, gleich kommt der Moderator mit Pappnase hinter den Regalen hervor und löst die Sache auf. Oder eben der nette Onkel hinter dem komischen Mädchen. Stimmen schrillten wirr durch meinen Kopf: Ach Gott, der ist ja auch wirklich zu bedauern, ein Kreuz ist das mit so einer ... Aber nett, wie er sich um sie kümmert.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Satz donnerte wie Hohn in meinen Ohren. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass er nicht aus dem Stimmengewirr in meinem Kopf kam. Ein Verkäufer der Sanitärabteilung stand vor uns. »Kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte er seine Frage. Sein Blick schweifte kurz über mich hinweg und blieb hinter mir am Täter hängen. Wie ahnungslos dieser freundliche Mann doch war! Ja, Sie können mir helfen! Bitte! Ich begann zu zittern, auf meinem T-Shirt bildeten sich Schweißflecken. Mir war schlecht, mein Gehirn gehorchte mir nicht mehr. Was hatte ich noch sagen wollen?
»Danke, wir kommen zurecht«, hörte ich eine Stimme hinter mir. Dann schraubte sich eine Hand um meinen Arm. Danke, wir kommen zurecht. Und falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Guten Tag. Guten Abend. Gute Nacht. Wie in der Truman-Show.
Wie in Trance schleppte ich mich durch den Baumarkt. Vorbei, vorbei. Ich hatte meine Chance vertan - vielleicht hatte ich auch nie eine gehabt. Ich fühlte mich wie in einer durchsichtigen Blase gefangen, meine Arme und Beine strampeln, versinken in einer gallertartigen Masse, aber können die Haut nicht durchstoßen. Ich taumelte durch die Gänge und sah überall Menschen: Aber ich gehörte nicht länger zu ihnen. Ich hatte keine Rechte mehr. Ich war unsichtbar.
* * *
Nach diesem Erlebnis war mir klar, dass ich nicht um Hilfe bitten konnte. Was wussten die Menschen hier draußen schon von der abstrusen Welt, in der ich gefangen war - und wer war ich, dass ich sie da hineinziehen durfte? Was konnte dieser freundliche Verkäufer schon dafür, dass ich ausgerechnet in seinem Geschäft aufgetaucht war? Welches Recht hatte ich, ihn der Gefahr auszusetzen, dass Priklopil durchdrehte? Seine Stimme hatte zwar neutral geklungen und seine Nervosität nichts verraten. Doch ich hatte fast hören können, wie sein Herz in seinem Brustkorb raste. Dann sein Griff um meinen Arm, sein Blick, der mich auf unserem weiteren Weg durch den Baumarkt von hinten durchbohrte. Die Drohung, Amok zu laufen. Dazu meine eigene Schwäche, mein Unvermögen, mein Versagen.
In dieser Nacht lag ich lange wach. Ich musste an meinen Vertrag mit meinem zweiten Ich denken. Ich war 17, der Zeitpunkt, an dem ich diesen Vertrag hatte einlösen wollen, rückte immer näher. Der Vorfall im Baumarkt hatte mir gezeigt, dass ich es allein schaffen musste. Gleichzeitig spürte ich, dass meine Kraft schwand und ich immer tiefer in die paranoide, seltsame Welt rutschte, die der Täter für mich gebaut hatte. Aber wie sollte mein verzagtes, angstvolles Ich zu dem starken Ich werden, das mich an der Hand nehmen und aus dem Gefängnis führen würde? Ich wusste es nicht. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich unendlich viel Kraft und Selbstdisziplin brauchen würde. Woher auch immer ich sie nehmen
Weitere Kostenlose Bücher