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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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ein paar Mal gemacht - mich nackt vor die Haustüre gestoßen und gesagt: »Lauf doch. Schau doch, wie weit du kommst.« Mit jedem Mal wurde die Welt draußen bedrohlicher. Ich geriet in einen massiven Konflikt zwischen meiner Sehnsucht, diese Außenwelt kennenzulernen, und der Angst vor diesem Schritt. Ich hatte über Monate darum gebettelt, kurz ins Freie zu dürfen, und immer wieder bekam ich zu hören: »Was willst du denn, du versäumst nichts, draußen ist es genauso wie hier drinnen. Außerdem schreist du, wenn du draußen bist, und dann muss ich dich umbringen.«
    Er wiederum schwankte zwischen krankhafter Paranoia, Furcht vor der Entdeckung seines Verbrechens und den Vorstellungen von einem normalen Leben, in dem es zwangsläufig Ausflüge in die Außenwelt geben musste. Es war wie ein Teufelskreis, und je mehr er sich von seinen eigenen Gedanken in die Ecke gedrängt fühlte, umso aggressiver wandte er sich gegen mich. Wie schon früher setzte er dabei auf eine Mischung von physischer und psychischer Gewalt. Er trampelte erbarmungslos auf den letzten Resten meines Selbstbewusstseins herum und trichterte mir immer wieder die gleichen Sätze ein. »Du bist nichts wert, du musst mir dankbar sein, dass ich mich deiner angenommen habe. Niemand würde dich sonst wollen.« Er erzählte mir, dass meine Eltern im Gefängnis seien und niemand mehr in der alten Wohnung wäre. »Wohin willst du denn schon, wenn du wegläufst? Niemand will dich dort draußen haben. Du würdest reumütig zu mir zurückkriechen.« Und er erinnerte mich eindringlich daran, dass er jeden umbringen würde, der zufällig Zeuge eines Fluchtversuchs werden würde. Die ersten Opfer, erklärte er mir, seien wahrscheinlich die Nachbarn. Und dafür wolle ich doch sicher nicht die Verantwortung übernehmen, oder?
    Er meinte seine Verwandten im Haus nebenan. Seit ich ab und zu in ihrem Pool geschwommen war, fühlte ich mich ihnen auf eine eigenartige Weise verbunden. Als wären sie es gewesen, die mir diese kleine Flucht aus dem Alltag im Haus ermöglicht hätten. Ich habe sie nie gesehen, aber am Abend, wenn ich oben im Haus war, hörte ich manchmal, wie sie ihre Katzen riefen. Die Stimmen klangen freundlich und besorgt. Nach Menschen, die sich liebevoll um die kümmern, die von ihnen abhängig sind. Priklopil versuchte, den Kontakt zu ihnen weitgehend zu minimieren. Sie brachten ihm manchmal einen Kuchen vorbei oder eine Kleinigkeit mit von einer Reise. Einmal war ich im Haus, als sie läuteten, und musste mich rasch in der Garage verstecken. Ich hörte ihre Stimmen, während sie mit dem Täter vor der Tür standen und ihm irgendetwas Selbstgemachtes übergaben. Er warf solche Sachen immer sofort weg - in seinem Hygienewahn hätte er niemals ein Stück davon gegessen, weil es ihn davor ekelte.
     
    * *  *
     
    Als er mich zum ersten Mal nach draußen mitnahm, spürte ich keine Befreiung. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, mein Gefängnis endlich verlassen zu dürfen. Doch nun saß ich auf dem Beifahrersitz und war gelähmt vor Angst. Der Täter hatte mir genau eingeschärft, was ich sagen musste, wenn mich jemand erkannte: »Du musst erst tun, als wüsstest du nicht, wovon die Rede ist. Wenn das nichts hilft, sagst du: Nein, das ist eine Verwechslung. Und wenn dich jemand fragt, wer du bist, sagst du, du bist meine Nichte.« Natascha gab es schon lange nicht mehr. Dann ließ er den Wagen an und rollte aus der Garage.
    Wir fuhren die Heinestraße in Strasshof entlang: Vorgärten, Hecken, dahinter Einfamilienhäuser. Die Straße war menschenleer. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Das erste Mal seit über sieben Jahren hatte ich das Haus des Täters verlassen. Ich fuhr durch eine Welt, die ich nur noch aus meiner Erinnerung kannte und von kurzen Videofilmen, die der Täter vor Jahren für mich gedreht hatte. Kleine Schnipsel, die Strasshof zeigten, ganz selten ein paar Menschen. Als er in die Hauptstraße einbog und sich in den Verkehr reihte, sah ich aus den Augenwinkeln einen Mann den Gehsteig entlanggehen. Er lief seltsam monoton, kein Innehalten, keine überraschende Bewegung, wie ein Spielzeugmännchen, das man am Rücken mit einer großen Flügelschraube aufgezogen hat.
    Alles, was ich sah, wirkte unecht. Und wie schon beim ersten Mal, als ich mit zwölf Jahren nachts im Garten stand, erfassten mich Zweifel an der Existenz all dieser Menschen, die sich so selbstverständlich und unbeeindruckt durch eine Umgebung bewegten, die ich zwar

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