3096 Tage
Ordnung! Gute Fahrt!« Der Polizist lächelte kurz, dann reichte er Priklopil die Papiere durchs Fenster. Er hatte keine Ahnung, dass er das Auto angehalten hatte, in das vor fast acht Jahren ein kleines Mädchen gezerrt worden war. Er hatte keine Ahnung, dass dieses kleine Mädchen seit fast acht Jahren im Keller des Entführers gefangengehalten wurde. Er ahnte nicht, wie nahe er daran war, ein Verbrechen aufzudecken - und Zeuge einer Amokfahrt zu werden. Ein Wort von mir hätte genügt, ein mutiger Satz aus dem Auto. Stattdessen sank ich in meinem Sitz zusammen und schloss die Augen, während der Täter den Wagen anließ.
Ich hatte die wohl größte Chance verpasst, aus diesem Alptraum auszusteigen. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass mir eine Option damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen war: den Polizisten einfach anzusprechen. Zu lähmend war meine Angst gewesen, Priklopil könne jedem etwas antun, zu dem ich in Kontakt trat.
Ich war eine Sklavin, eine Untergebene. Weniger wert als ein Haustier. Ich hatte keine Stimme mehr.
* * *
Während meiner Gefangenschaft hatte ich immer wieder davon geträumt, im Winter einmal Skilaufen zu gehen. Blauer Himmel, die Sonne auf dem glitzernden Schnee, der die Landschaft in ein unberührtes, flockiges Gewand hüllt. Das Knirsehen unter den Schuhen, die Kälte, die einem die Wangen ganz rot macht. Und hinterher ein warmer Kakao, wie früher, nach dem Eislaufen.
Priklopil war ein guter Skifahrer, der in den letzten Jahren meiner Gefangenschaft immer wieder Tagesausflüge in die Berge machte. Während ich seine Sachen packte und seine penibel zusammengestellten Listen durchging, war er schon ganz aufgeregt. Skiwachs. Handschuhe. Müsliriegel. Sonnencreme. Lippenbalsam. Mütze. Ich brannte jedes Mal vor Sehnsucht, wenn er mich in das Verlies sperrte und das Haus verließ, um in den Bergen in der Sonne über Schnee zu gleiten. Ich hätte mir nichts Schöneres vorstellen können.
Kurz vor meinem 18. Geburtstag sprach er häufiger davon, mich eines Tages zu einem solchen Skiausflug mitzunehmen. Das war für ihn der größte Schritt Richtung Normalität. Es mag sein, dass er mir damit auch einen Wunsch erfüllen wollte. Aber vor allem wollte er sich die Bestätigung holen, dass sein Verbrechen schlussendlich von Erfolg gekrönt war. Wenn ich ihm auch in den Bergen nicht von der Leine ging, hätte er in seinen Augen alles richtig gemacht.
Die Vorbereitungen nahmen einige Tage in Anspruch. Der Täter ging seine alten Skisachen durch und legte mir verschiedene Teile zum Anprobieren vor. Einer der Anoraks passte, ein flauschiges Ding aus den Siebzigerjahren. Doch eine Skihose fehlte. »Ich kauf dir eine«, versprach der Täter. »Wir gehen gemeinsam einkaufen.« Er klang aufgeregt und schien für einen Moment glücklich.
Am Tag, als wir ins Donauzentrum fuhren, lief mein Kreislauf aufSparflamme. Ich war schwer unterernährt und konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich ins Auto stieg. Es war ein eigenartiges Gefühl, das Einkaufszentrum zu besuchen, durch das ich früher oft mit meinen Eltern geschlendert war. Es liegt heute nur zwei U-Bahn-Stationen vom Rennbahnweg entfernt, damals waren es ein paar Stationen mit dem Bus. Der Täter fühlte sich offenbar sehr, sehr sicher.
Das Donauzentrum ist ein typisches Vorstadt-Einkaufszentrum. Auf zwei Etagen reihen sich Geschäfte aneinander, es riecht nach Popcorn und Pommes frites, die Musik ist viel zu laut und übertönt doch kaum das Stimmengewirr der zahllosen Jugendlichen, die sich mangels anderer Treffpunkte vor den Geschäften sammeln. Selbst Menschen, die solche Massenaufläufe gewohnt sind, fühlen sich hier schnell überfordert und sehnen sich nach einem Moment der Ruhe und frischer Luft. Auf mich wirkten der Lärm, das Licht und die vielen Menschen wie eine Wand, wie ein undurchdringliches Dickicht, in dem ich mich nicht orientieren konnte. Mühsam versuchte ich, mich zu erinnern. War das nicht das Geschäft, in dem ich mit meiner Mutter ...? Für einen flüchtigen Moment sah ich mich als kleines Mädchen eine Strumpfhose aussuchen. Doch die Bilder der Gegenwart schoben sich darüber. Überall waren Menschen: Jugendliche, Erwachsene mit großen, bunten Tüten, Mütter mit Kinderwagen, ein einziges Durcheinander. Der Täter dirigierte mich in ein großes Bekleidungsgeschäft. Ein Labyrinth, voll mit Kleiderständern, Wühltischen und Schaufensterpuppen, die mit ausdruckslosem Lächeln die Wintermode der
Weitere Kostenlose Bücher