3096 Tage
sollte.
* * *
Was mir damals half, waren tatsächlich die Selbstgespräche mit meinem zweiten Ich und meine Notizen. Ich hatte eine zweite Serie von Zetteln begonnen; nun hielt ich nicht nur die Misshandlungen fest, sondern versuchte, mir schriftlich Mut zu machen. Durchhalteparolen, die ich hervorkramte, wenn ich am Boden war, und die ich mir dann laut vorlas. Manchmal war das eher wie das Pfeifen im dunklen Wald, aber es funktionierte.
Nicht unterkriegen lassen, wenn er sagt, du bist zu blöd für alles.
Nicht unterkriegen lassen, wenn er dich schlägt.
Nichts darauf geben, wenn er sagt, du bist unfähig.
Nichts darauf geben, wenn er sagt, du kannst ohne ihn nicht leben.
Nicht reagieren, wenn er dir das Licht abdreht.
Ihm alles verzeihen und nicht weiter böse sein.
Stärker sein.
Nicht aufgeben.
Niemals, niemals aufgeben.
Nicht unterkriegen lassen, niemals aufgeben. Aber das war einfacher gesagt als getan. So lange waren all meine Gedanken darauf konzentriert gewesen, aus diesem Keller, aus diesem Haus herauszukommen. Nun war das gelungen. Und nichts hatte sich geändert. Ich war draußen genauso gefangen wie drinnen. Die äußeren Mauern schienen durchlässiger geworden, meine innere war betoniert wie nie. Hinzu kam, dass unsere »Ausflüge« Wolfgang Priklopil an den Rand der Panik brachten. Hin- und hergerissen zwischen seinem Traum von einem normalen Leben und der Furcht davor, ich könne es durch einen Fluchtversuch oder mein Verhalten allgemein zerstören, wurde er immer fahriger und unkontrollierter. Auch wenn er mich sicher verwahrt im Haus wusste. Seine Wutausbrüche wurden häufiger, natürlich gab er mir die Schuld daran und verfiel in einen regelrechten paranoiden Wahn. Er ließ sich auch durch mein zaghaftes, ängstliches Verhalten in der Öffentlichkeit nicht beruhigen. Ich weiß nicht, ob er mir insgeheim unterstellte, ich würde ihm die Verunsicherung nur vorspielen. Wie unfähig ich zu einer solchen Inszenierung gewesen wäre, zeigte mir ein weiterer Ausflug nach Wien, der meine Gefangenschaft eigentlich hätte beenden müssen.
Wir fuhren gerade auf der Brünnerstraße, als der Verkehr ins Stocken geriet. Eine Polizeikontrolle. Ich sah den Wagen und die Uniformierten, die die Autos herauswinkten, schon von weitem. Priklopil sog scharf Luft ein. Er veränderte seine Sitzposition nicht um einen Millimeter, doch ich beobachtete, wie sich seine Hände um das Lenkrad krampften, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. Äußerlich war er ganz ruhig, als er den Wägen am Straßenrand stoppte und das Fenster öffnete. »Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte!« Ich hob vorsichtig den Kopf. Das Gesicht des Polizisten wirkte überraschend jung, sein Ton war bestimmt, aber freundlich. Priklopil kramte nach den Papieren, während der Polizist ihn musterte. Sein Blick streifte mich nur kurz. In meinem Kopf formte sich ein Wort, das ich wie in einer großen Sprechblase in der Luft schweben sah: HILFE! Ich hatte es so deutlich vor Augen, dass ich gar nicht glauben konnte, dass der Polizist nicht sofort reagierte. Doch der nahm unbeeindruckt die Papiere entgegen und überprüfte sie.
Hilfe! Holen Sie mich hier raus! Sie kontrollieren einen Verbrecher! Ich blinzelte und rollte mit den Augen, als würde ich Morsezeichen geben. Es muss ausgesehen haben, als hätte ich irgendeinen Anfall. Dabei war es nichts als ein verzweifeltes SOS, gefunkt mit den Augenlidern eines mageren Teenagers, der auf dem Beifahrersitz eines weißen Kastenwagens hockte.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Vielleicht könnte ich einfach aus dem Auto springen und losrennen? Ich könnte zum Streifenwagen laufen, er stand ja direkt vor meinen Augen. Aber was sollte ich sagen? Würde man mir zuhören? Was, wenn ich abgewiesen würde? Priklopil würde mich wieder einsammeln, sich wortreich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und dafür, dass seine gestörte Nichte den ganzen Betrieb aufhielt. Und außerdem: Ein Fluchtversuch - das war das schlimmste Tabu, das ich brechen konnte.
Wenn er scheiterte, mochte ich mir gar nicht ausmalen, was mir blühen würde. Doch was, wenn es funktionierte? Ich sah Priklopil vor mir, wie er das Gaspedal durchdrückt und mit quietschenden Reifen losrast. Dann gerät er ins Schleudern und auf die Gegenfahrbahn. Kreischende Bremsen, splitterndes Glas, Blut, Tod. Priklopil hängt reglos über dem Lenkrad, aus der Ferne nähern sich Sirenen.
»Danke, alles in
Weitere Kostenlose Bücher