3096 Tage
Menschen in Daunenjacken standen an der Kasse, erwartungsfrohe Gesichter, Gelächter, dazwischen das Klacken der Schnallen beim Anprobieren der Skischuhe. Ein Verkäufer kam auf uns zu. Braungebrannt und jovial, ein Skilehrertyp mit rauer, lauter Stimme, der seine Scherze routiniert abspulte. Er brachte mir ein Paar Skischuhe Größe 37 und ging vor mir in die Knie, um die Passform zu überprüfen. Priklopil ließ mich nicht aus den Augen, als ich dem Verkäufer bestätigte, dass nichts drückte. Ich hätte mir keinen unpassenderen Ort vorstellen können, um auf ein Verbrechen hinzuweisen, als dieses Geschäft. Alles locker, alles großartig, alles fröhliche Effizienz und Routine in Sachen Freizeitspaß. Ich sagte nichts.
»Wir können nicht mit dem Lift fahren, das ist zu gefährlich. Du könntest jemanden ansprechen«, sagte der Täter, als wir nach einer langen, kurvigen Straße auf dem Parkplatz des Skigebiets Hochkar eintrafen. »Wir fahren direkt ins Gelände.«
Wir parkten etwas abseits. Links und rechts stiegen die verschneiten Hänge stark an. Weiter vorne war ein Sessellift zu sehen. Leise hörte man die Musik der Bar an der Talstation. Das Hochkar ist eines der wenigen Skigebiete, die von Wien aus leicht erreichbar sind. Es ist klein, sechs Sessellifte und ein paar kurze Schlepplifte bringen die Skifahrer hinauf auf die drei Gipfel. Die Pisten sind schmal, gleich vier davon sind als »schwarz« gekennzeichnet, die schwierigste Kategorie.
Ich versuchte krampfhaft, mich zu entsinnen. Mit vier Jahren war ich schon einmal mit meiner Mutter und einer befreundeten Familie hier gewesen. Aber nichts erinnerte an das kleine Mädchen, das damals in einem dicken rosa Skianzug durch den Tiefschnee gestapft war.
Priklopil half mir, die Skischuhe anzuziehen und in die Bindung zu steigen. Unsicher rutschte ich auf den Brettern über den glatten Schnee. Er zog mich über die Schneehaufen am Straßenrand und schubste mich über die Kante direkt auf den Hang. Er kam mir mörderisch steil vor, und ich erschrak vor der Geschwindigkeit, mit der es abwärts ging. Skier und Schuhe wogen vermutlich mehr als meine Beine. Ich hatte nicht die nötigen Muskeln, um sie zu lenken, und wohl schon vergessen, wie man das überhaupt machte. Der einzige Skikurs, den ich in meinem Leben besucht hatte, war zu meiner Zeit im Hort gewesen. Eine Woche, die wir in einem Jugendhotel in Bad Aussee verbracht hatten. Ich war ängstlich gewesen, hatte gar nicht erst mitfahren wollen, so lebendig war die Erinnerung an meinen gebrochenen Arm. Aber die Skilehrerin war nett und freute sich mit mir über jeden gelungenen Schwung. Ich machte Fortschritte und fuhr am letzten Tag des Kurses sogar beim großen Rennen auf dem Übungshang mit. Im Ziel riss ich die Arme hoch und jubelte. Dann ließ ich mich rückwärts in den Schnee fallen. So frei und stolz auf mich selbst hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt.
Stolz und frei - ein Leben, das Lichtjahre entfernt war.
Ich versuchte verzweifelt zu bremsen. Doch schon beim ersten Versuch verkantete ich und kippte in den Schnee. »Wie stellst du dich nur an«, schimpfte Priklopil, als er neben mir hielt und mir beim Aufstehen half. »Du musst Bogen fahren! So!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich halbwegs auf den Skiern halten konnte und wir ein paar Meter vorankamen. Meine Hilflosigkeit und Schwäche schienen den Täter so zu beruhigen, dass er beschloss, doch eine Liftkarte für uns zu kaufen. Wir reihten uns ein in die lange Schlange lachender, drängelnder Skiläufer, die es gar nicht erwarten konnten, bis der Lift sie am nächsten Gipfel wieder ausspuckte. Ich fühlte mich inmitten all dieser Menschen in ihren bunten Skianzügen wie ein Wesen von einem anderen Stern. Ich zuckte zurück, wenn sie sich ganz nah an mir vorbeischoben und mich dabei berührten. Ich zuckte zurück, wenn sich Stöcke und Skier verhakten, ich plötzlich eingekeilt war zwischen lauter Fremden, die mich vermutlich gar nicht wahrnahmen, deren Blicke ich aber zu spüren glaubte. Du gehörst nicht hierher. Das ist nicht dein Platz. Priklopil schob mich von hinten an. »Schlaf nicht ein, weiter, weiter.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit saßen wir endlich im Lift. Ich schwebte durch die winterliche Berglandschaft - ein Moment der Ruhe und Stille, den ich zu genießen versuchte. Aber mein ganzer Körper rebellierte gegen die ungewohnte Anstrengung. Meine Beine zitterten, und ich fror erbärmlich. Als der Sessellift in die
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