31 - Und Friede auf Erden
öffentliche Leben und stieg von Stufe zu Stufe. Bei jedem Schritt empor stieß ich die Menschheit hundert Schritt tiefer. Warum? Die ‚Shen‘ in mir war krank! Sie litt immer mehr und mehr, bis sie sich nicht mehr regte. Schließlich war ich nur noch ich, Oberhaupt meiner Familie, Engländer und Kaukasier, nebenbei auch Christ, weiter aber nichts! Alles übrige war der Dysenterie verfallen. Nachdem ich das Übel erkannt habe, meine ich, daß es ungeheuer ansteckend ist. Ich habe, ohne es zu wissen, inmitten einer großen, entsetzlichen Epidemie gelebt. Der Ansteckungsstoff heißt Vorurteil; der Heidenpriester hatte recht! Kinder, mir wird angst! Suchen wir nach einem Mittel, ihr entgegenzutreten, damit sie wenigstens nicht weiter um sich greife! Wißt Ihr, was ich tue? Ich gehe Ko-su holen! Indem ich den verachteten Chinesen bediene und unterstütze, finde ich zugleich das heilende Ko-su für mich selbst!“
Er ging hinaus. Raffley sah ihm gerührt und mit liebevollen Augen nach.
„Nur noch eine kleine Schar so prächtiger Menschen!“ sagt er. „So begeistert, so impulsiv, so aufrichtig, so opferfähig und in ähnlicher Lebensstellung wie er, dann würden dieser häßlichen Epidemie bald engere Grenzen gezogen werden! Aber wie vielen sind diese hohen Gaben verliehen? Und wer sie besitzt, dem hängt sich jenes Vorurteil der übrigen an beide Hände und Füße! Sklaven, Sklaven, Sklaven!“
Bei diesen Worten stand er auf und ging im Zimmer hin und her. Auch ich verließ meinen Sitz und trat an die Fenstertür. Da sah ich die malaische Sänfte draußen stehen und die zu ihr gehörigen Leute. Zu gleicher Zeit klopfte es bei uns an, und der Priester kam herein, um sich von uns zu verabschieden. Er hatte den Mijnheer nicht sprechen können, da er nicht zu Hause sei. Darum versprachen wir, den Dank gewissenhaft auszurichten. Er reichte zunächst mir die Hand. Wie kam es doch, daß ich sie an meine Lippen zog? Dann wandte er sich zu John und sagte:
„Ich gehe fort; Ihr aber bleibt. Noch einige Zeit, so werdet Ihr es sein, der fortgeht, während dann ich zu bleiben habe. So geht der Bleibende, und so bleibt der Gehende, denn es gibt keine – Zeit! Ob du oder ich, ob hier oder dort, das ist kein Unterschied, denn es gibt keinen – Ort! Dies aber nur dann, wenn wir alle, die wir Menschen sind, der Liebe angehören, die Zeit und Raum umfaßt im Kreis der ganzen Erde. So fragte ich also nicht, ob wir uns wiedersehen werden. Des Leibes Auge erfaßt nur das, was in der Nähe liegt; für das weitere ist es blind. Jene Liebe aber leiht uns ihren Blick für die Unendlichkeiten. Dann sieht die ‚Shen‘, was sonst verborgen liegt. Ich werde Eurer harren. Und steigt in meines Lebens Abendröte von Westen her ein lieber Gruß empor, umsäumt vom goldenen Licht dessen, was ich wünsche, so ist es kein Abschied gewesen, den wir jetzt hier nehmen, sondern Ihr seid bei mir geblieben in Eurer Liebe, wie ich Euch begleitet habe mit der meinigen. Vergeßt nicht diese meine Worte, und laßt den Gruß mir steigen! Ich möchte ihn so gern noch sehen, bevor mein Abendrot zur Morgenröte wird!“
Er nahm Raffleys rechte Hand in seine linke, legte ihm die Hand auf das Haupt und schaute ihn mit einem unbeschreiblichen Blick tief, tief in die Augen. Dann wandte er sich ab und ging hinaus, gleich durch die Fenstertür, die ich ihm öffnete.
Da kam von der anderen Seite mein Sejjid Omar. Er hatte erfahren, daß die Malaien fort wollten, und war zum Händler geeilt. Nun brachte er sein ganzes, hoch aufgerafftes Oberkleid voll Früchte, die er unter sie verteilte. Er, der früher so strenge Moslem, der keinen Heiden auch nur anrühren wollte, hatte sie liebgewonnen und wollte ihnen dies durch seine Gabe zeigen. Sie waren hierüber so erfreut, daß sie ihm ihren Dank in fröhlicher Weise brachten. Nämlich sie faßten ihn, schoben ihn mitsamt seinen Früchten in die Sänfte, trugen ihn unter Absingen eines malaischen Liedes dreimal rundum und dann im Triumph zum Tor hinaus.
Der Priester folgte ihnen langsamen Schrittes, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er ging ja doch nicht fort, denn sein Segen blieb zurück!
„Kommt, Charley!“ sagte John. „Im Zimmer zu bleiben, das ist mir jetzt unmöglich. Wir wollen gehen, um zu sehen, ob wir den Uncle finden.“
Wir machten einen stundenlangen Spaziergang, entdeckten aber den Governor nirgends in der Nähe. Als wir heimkamen, war er noch nicht da. Wir wollten Sejjid Omar nach ihm fragen;
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