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31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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verhängnisvoll werden können, und hier hatte sie ja in einer Weise um sich greifen dürfen, welche selbst mich, den immer Zuversichtlichen, am Erfolg fast verzweifeln ließ, obgleich ich das nicht sagte. Aber der Geist, der Geist! Vielleicht ist es ebenso richtig oder noch richtiger, wenn ich sage, die Seele, die Seele! Ich stehe da vor einem Zustand, von dem ich zwar gehört und auch gelesen habe, der mir aber noch niemals vorgekommen ist. Der Psychologe befindet sich da in einer Lage, die ihn mit den Anschauungen und Behauptungen der Wissenschaft in den allerernstesten Konflikt geraten läßt. Jeder abendländische Arzt würde mit der größten Überzeugung sagen, daß Waller wahnsinnig geworden sei. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich dies Miß Mary verschweige, zumal ich dieser Ansicht ganz unmöglich beizustimmen vermag. Er spricht nämlich grad während der sogenannten Wahnsinnsanfälle überaus klar und richtig. Ja, seine Logik kommt mir dann so scharf, so unwiderstehlich, so erhaben, fast überirdisch vor. Es ist nichts Monomanes, nichts Gestörtes, nichts krankhaft Unsicheres dabei. Diese Anfälle wirken auf sein körperliches Befinden vorteilhaft, anstatt es zu deprimieren. Er scheint in eine Duplizität oder gar Triplizität gespalten zu sein. Jetzt spricht er selbst, mit seiner eigenen Stimme und in seiner gewöhnlichen, uns allen bekannten Weise. Plötzlich ändert sich sein Ton. Er redet nicht mehr englisch, sondern deutsch. Sein Ausdruck ist ein höherer geworden. Er bringt sogar Reime, die tadellosesten Reime, die man sich denken kann. Und sie klingen sanft, zart, weich, wie aus einem liebevollen, bittenden Frauenmund. Und ebenso plötzlich fällt ihm ein tiefer, starker Baß in die Rede, während seine Stimmlage doch fast noch höher als Bariton ist. So ist es, als ob er aus sich selbst und noch zwei andern Wesen bestehe, welche sich um sein Denken und Fühlen miteinander streiten. Es ist dies im höchsten, im allerhöchsten Grade interessant. Glücklicherweise stehe ich da nichts Unbekanntem gegenüber. Unsere chinesische Psychologie erklärt uns das mit größter Leichtigkeit als sehr natürlich. Die abendländische Wissenschaft aber besitzt, vermute ich, kein einziges Werk oder Buch, welches diesen Zustand kennt und sich in eingehender Weise und erklärend mit ihm beschäftigt. Darum –“
    Er hielt inne, weil Mary in das Zimmer trat, um uns auch zu bewillkommnen. Sie sah wieder ganz wohl und hoffnungsvoll aus. Die Versicherung des Arztes, daß ihr Vater gerettet sei, hatte ihren Augen den früheren Glanz und ihren Wangen die jugendliche Röte zurückgegeben. Ihr Gemüt war zwar noch nicht frei von jeglicher Sorge, aber doch nicht mehr so schwer bedrückt wie vorher.
    Der Missionar war soeben in einen tiefen, festen Schlaf gesunken, und so konnte seine Tochter längere Zeit bei uns bleiben. Es erleichterte sie, uns erzählen zu können, wie angstvoll allerseits der Kampf mit dem drohenden Tod gewesen sei und wie glücklich sie sich jetzt fühle, zu wissen, daß der Vater sich erholen werde. Sie vermied es sorgfältig, hierbei zu erwähnen, mit welcher aufopfernden Hingebung Tsi sich des Kranken angenommen hatte, aber ihre Augen sprachen um so deutlicher von dem Dank, den sie für ihn im tiefsten Herzen fühlte. Indem ich dies beobachtete, fiel es mir erst auf, wie hager er geworden war. Und später erfuhr ich von ihr direkt, daß er im Sorgen und Wachen gewiß noch mehr geleistet habe wie sie selbst.
    Als beide, Mary und Tsi, diesen ihren Besuch beendet hatten und ich in mein Zimmer ging, um zu schreiben, fand ich, daß mein Papiervorrat fast ganz zu Ende gegangen war. Ich begab mich infolgedessen nach dem mit dem Hotel verbundenen Verkaufsladen Rosenberg, um das Fehlende zu ergänzen. Nachdem dies geschehen war, setzte ich mich auf die Veranda, um ein Glas Bier zu trinken, ‚Pilsener‘ aus Hamburg natürlich. Ich war noch nicht lange da, so kam ein Malaie, welcher die Absicht hatte, vorüberzugehen. Er schien nach der Zitadelle zu wollen. Er war jetzt ganz anders gekleidet; ich erkannte ihn aber doch als den, welcher mit uns über die Auslieferung Wallers verhandelt hatte. Er trug ein kleines Paket in der Hand. Ich rief ihn an. Er kam zu mir her, und ich sah ihm an, daß er auch mich erkannte.
    „Wo willst du hin?“ fragte ich.
    „Nach dem Kratong“, antwortete er.
    „Zu wem?“
    „Zum kranken Tuwan und auch zum Tuwan Governor. Dem Kranken soll ich sein Buch geben und dem

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