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31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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auf einem Umweg zu tun, da es sich um eine Spazierfahrt handle. Dann, als wir so eng und traulich nebeneinander saßen, ergriff er das Wort:
    „Charley, was haltet Ihr von Bildern?“
    „Sir, was haltet Ihr von Büchern?“ antwortete ich.
    „Sonderbare Frage!“
    „Ganz so wie die Eure!“
    „Aber wie Ihr die Frage stellt, kann man sie gar nicht beantworten! Sie ist zu unbestimmt.“
    „Habt Ihr bestimmter gesprochen?“
    „Hm! Allerdings nicht! Wie konnte ich also eine Antwort verlangen; es ist ja keine möglich!“
    „O, doch! Eure Frage war nämlich gar keine Frage, sondern der Angstruf Eures inneren Menschen, der sich bisher gefürchtet hat, das Bild zu betrachten. Nun habt ihr es aber doch getan, und da schreit er auf, weil er die Folgen kommen fühlt.“
    Da wandte er sich mir zu, sah mich betroffen an und fragte:
    „Bin ich etwa durchsichtig?“
    „Ja!“
    „Hallo! Das ist stark! Glaubt Ihr, durch mich hindurchschauen zu können?“
    „In dieser Beziehung allerdings.“
    „Und was seht Ihr da?“
    „Die ‚Yin‘.“
    „Oho!“
    „Jawohl! Ganz gewiß die ‚Yin‘, obgleich Ihr vielleicht versucht, Euch hierüber zu täuschen. Diese ‚Yin‘ ist nämlich etwas ganz anderes, als Ihr denkt; sie besitzt eine Euch vollständig unbekannte und unbegreifliche Macht. Mit dieser Macht hat sie Euch gepackt. Ihr seid ihr Eigentum geworden und werdet es auch bleiben!“
    „Entsetzlicher Mensch!“
    „Wer?“
    „Ihr! Ich habe nämlich nicht gewußt, was mich so – – so – – nun, auf eine bisher so unbekannte Weise beunruhigt, seit ich in der Kajüte gewesen bin. Es ist nicht Furcht, nicht Angst, nicht Reue. Es ist auch nichts Betrübendes oder gar Häßliches, sondern es scheint im Gegenteil etwas Gutes, etwas Wünschenswertes zu sein. Und dennoch quälte es mich! Es bohrte in mir. Da kommt ihr mit Eurer Behauptung, daß ich das Eigentum der ‚Yin‘ geworden sei, und richtig! In dem Augenblick, als Ihr es sagt, da wird sie plötzlich in mir wach; da steigt sie in mir auf, und ich muß Euch sagen, daß ich sie nicht nur sehe, sondern in meinem ganzen Körper fühle, bis an die Fingerspitzen! Oder ist es nicht mein Körper, sondern der Geist, die Seele, und ich kann es nur nicht unterscheiden?“
    „Es ist nicht Euer Körper, sondern der innere Uncle und Governor, ganz derselbe, den Ihr vorhin den inneren Sejjid Omar genannt habt. Wollt Ihr mich nun noch einmal fragen, was ich von Bildern halte, nämlich von solchen? Denn nur solche sind Bilder. Alles andere ist nur Malerei, oft sogar Schmiererei! Das deutsche Wort Bild kommt von ‚bilden‘ her. Versteht Ihr mich? Das hat mit dem Ausdruck ‚nachbilden‘ nur den Klang der zweiten und dritten Silbe gemein, weiter nichts. Der wahre Künstler hat stets eigene Gedanken. Er bildet niemals nach, selbst wenn er porträtiert. Er schafft dem vorhandenen Körper Geist und Seele. Er zeigt am dümmsten Bauerkopf die in Wirklichkeit vollständig unsichtbare, aber dennoch vorhandene Intelligenz. Er demonstriert am menschenfreundlich erscheinenden Gesicht des Eroberers die tief in ihm versteckte, stets kampfesfertige Bulldoggennatur. Und ist er nicht bloß Talent, sondern Genie, so schafft er auch die gegebene Gestalt vollständig um, ohne daß gewöhnliche Augen es bemerken, und läßt uns, einem Zauberer gleich, dann Wesen sehen, welche zwar vollständig berechtigt sind, der Wirklichkeit anzugehören, aber in der Sprache ganz anderer, höherer Welten zu uns zu reden. Diese Sprache ist für den Körper unvernehmbar. Sie klingt nur von Geist zu Geist, von Seele zu Seele. In ihr naht sich die Macht, die Euch ergriff, als Ihr vor der ‚Yin‘ standet und sie betrachtetet.“
    „So glaubt Ihr, ein Genie habe dieses Bild erschaffen?“
    „Unbedingt. Nur das Genie gibt neue Rätsel auf, während das Talent sich mit alten, längst vorhandenen beschäftigt. Und dieses Porträt der ‚Yin‘ ist ein Rätsel, ein neues, ein schönes, ein entzückendes Rätsel, an dessen Lösung ich mein Leben setzen würde, wenn ich Maler wäre. Ihr habt zu mir gesagt: ‚Ich will Euch nach einem Ort führen, wo es spukt, bei Tage sogar noch deutlicher als bei Nacht.‘ Mein teurer Freund, diese ‚Yin‘ konnte für Euch nur so lange ein Spuk, ein Gespenst sein, als es Nacht in Eurem Innern war. Mir scheint, heut ist es Tag geworden. Wenigstens dämmert es bereits. In diesem Zwielicht erscheint sie bereits klarer, lichter, schöner, doch noch nicht ganz aus der Nacht

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