Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
314 - Exodus

314 - Exodus

Titel: 314 - Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stern
Vom Netzwerk:
und verbarg seine Überraschung, als er fühlte, dass ihr der kleine Finger fehlte. Bei einer unauffälligen Betrachtung wirkte ihre Hand, als wäre sie in einen Häcksler geraten und danach notdürftig wieder zusammengesetzt worden.
    Neugierig sah er sich in dem Raum um, in den man sie geführt hatte. Was ihm sofort auffiel, waren die vielen Spritzpflanzen und die Stoffpuppen aus Lumpen. Einfache Holzmöbel und bunte Teppiche stellten den Großteil der Einrichtung. Sie bestachen durch viel zu bunte Farben und schienen das Ziel zu haben, den Betrachter durch Sinnesverwirrung in den Wahnsinn zu treiben. Seinen Geschmack traf es jedenfalls nicht.
    Ljubov bot ihm einen Stuhl an, doch Rulfan schüttelte mit einer Grimasse den Kopf. Gesessen hatte er lange genug.
    Auch Aruula blieb neben einer verblichenen violettgrünen Couch stehen, die mit Häkeldeckchen, Stoffpüppchen und farbigen Kissen überladen war. Ljubov bot ihr Süßigkeiten aus Biotief auf einem goldenen Teller an, der aussah wie ein Relikt alter Tage. Aruula griff dankbar zu.
    Juri und Igir hatten den Raum verlassen, aber die Stimme von Juri drang noch immer bis ins Wohnzimmer. Er sprach schnell, polternd und schmeichlerisch auf Russisch. Eine laute, wütende Frauenstimme antwortete ihm, die Rulfan unvermittelt an einen Hornissenschwarm denken ließ. Er hörte vor allem die Worte »Njet« und »Dawai« heraus. Unangenehm berührt wandte er sich an Jubov. »Wir bereiten Unannehmlichkeiten, wie es scheint. Das lag nicht in unserer Absicht.«
    Über das dunkle Gesicht von Jubov huschte ein Lächeln, bei dem sie strahlend weiße Zähne präsentierte. Ihre Stimme verriet im Akzent ihre afranische Herkunft. Sie war ganz sicher nicht in der Antarktis geboren. »Aber nein, Rulfan. Nadeschda ist eben Nadeschda. Ein wahres Goldstück unter dem Himmel, aber nicht glücklich, wenn sie nicht kann ausschimpfen die eigenen Leute.«
    Rulfan hatte seine Zweifel, was das Goldstück betraf, aber er sagte nichts mehr zu dem Thema. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, Jubov – von der er nach ihrem Lächeln sehr sicher war, dass es sich um eine Frau handelte – nach Wasserstoff zu fragen. Sie wusste sofort, was er meinte, und zeigte Rulfan damit, was er schon von Aruula und Maddrax wusste: Die Menschen am Südpol waren im Gegensatz zu denen anderer Kontinente nie der CF-Strahlung des Wandlers ausgesetzt gewesen. Ihr Wissen um die Vergangenheit war ungebrochen.
    »Wasserstoff! Njet, so was haben wir nicht. Dieselöl hätte ich dir anbieten können, Weißhaar Rulfan. Aber Gas du kriegst nur in Iznir oder Lanschie auf dem Markt. Wobei Lanschie liegt noch mehrere Hundert Kilometer weit fort. Iznir erreichst du mit deinem Luftschiff vermutlich in weniger als einer Stunde.«
    Rulfan horchte auf. »Hast du eine Karte? Kannst du mir die Koordinaten von diesem Markt geben?«
    Wieder zeigte Jubov ihre Zähne. Es wirkte sonderbar beunruhigend auf Rulfan. Gar nicht mehr wie ein Lächeln, eher wie das Blecken eines Raubtiergebisses. »Da. Aber eine Kleinigkeit du könntest schon zahlen.«
    Ehe Rulfan antworten konnte, dass sie sich schon einig werden würden, platzte eine Frau herein, die gut zwei Köpfe kleiner als Jubov war und dank ihrer Masse kaum durch die Tür passte. Trotzdem bewegte sie sich erstaunlich schnell. Sie stapfte einer Lawine gleich auf Aruula zu, einen Schwall Russisch auf den Lippen, und drückte die Barbarin an ihre übergroßen Brüste. Nur Sekunden später geschah dem verdutzten Rulfan dasselbe.
    »Essen ist fertig«, sagte sie dabei immer wieder auf Englisch, mit russischem Akzent. »Kommt Essen im großen Raum. Nadeschda sorgt für euch.« Ihre Stimme klang warm und herzlich, von dem Hornissenschwarm hörte Rulfan nichts mehr. Sie dirigierte die beiden, indem sie sie an den Oberarmen packte und vor sich herschob. In ihrem rundlichen Gesicht lag eiserne Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete.
    Aruula schien, ihrem Gesichtsausdruck nach, die Behandlung gar nicht zu gefallen, und auch Rulfan fühlte sich ein wenig wie ein Möbelstück, das verschoben werden sollte. Doch als er die sich durchbiegende Tischplatte im Nebenraum entdeckte, entschuldigte er den Übergriff gern. Seine Augen leuchteten, als er die verschiedenen Biotief-Beilagen zu den Robbenlendchen und anderen ihm unbekannten Fleischgerichten sah.
    »Grauschwabb«, sagte Aruula begeistert und zeigte auf eine goldene Platte. »Schmeckt wie Huhn.«
    Sie setzten sich, alle hoben ihre Gläser.

Weitere Kostenlose Bücher