315 - Apokalypse
Juefaan sie gerettet, als ein Exekutor sie bedrohte.
Dass sie dem Jungen daraufhin versprochen hatte, ihm einen Herzenswunsch zu erfüllen, war zu ihrem Dilemma geworden. Denn Juefaan hatte sich gewünscht, Rulfan möge mit Aruula zum Südpol fliegen, um seinen Freund und Blutbruder Maddrax vor dem Daa’muren Grao zu warnen.
Natürlich war Juefaans Wunsch legitim, aber sie hätte alles darauf verwettet, dass er die nächste Zeit lieber bei seinem neugewonnenen Vater verbracht hätte. Stattdessen...
Und würde sein, wenn der Junge irgendwann Ansprüche stellte – die des Erstgeborenen, die zu Lasten ihres eigenen Sohnes gehen würden?
Myrial seufzte schwer und geriet von einem Dilemma ins nächste. Seit sich der arme Junge verletzt hatte, entwickelte sie auch noch mütterliche Gefühle für ihn! Natürlich würde sie alles tun, damit er wieder gesund wurde...
Ist das wirklich so natürlich? Ach, ich weiß auch nicht, was ich denken soll...
Ihre aufgewühlte Gefühlswelt ließ die Traumbilder nun vollends verblassen. Im Gegensatz zu der dumpfen Unruhe, die einfach nicht weichen wollte. Myrial schlüpfte aus dem Bett, entzündete ein Öllämpchen, zog trockene Kleider an und betrat schließlich den kalten, von Fackeln beleuchteten Gang, um nach ihrem Baby zu sehen. Ihr Schwiegervater, Sir Leonard Gabriel, hatte den Kleinen gestern Abend zu sich ins Zimmer genommen, um ihm wieder irgendwelche Schauergeschichten zu erzählen und ihn dann auf seinen Armen in den Schlaf zu wiegen.
Leonard war ein wunderbarer Opa. Mit Wehmut dachte Myrial an ihren eigenen Vater Pellam, der die Geburt des Kleinen leider nicht mehr hatte miterleben können, weil ihn Ninian, die Massenmörderin, hier in der Burg umgebracht hatte. Pellam wäre ein ebenso guter Großvater gewesen.
Nein, sicher ein noch besserer. Ich hoffe, dass du den Kleinen wenigstens von Wudans Tafel aus sehen kannst, Dad...
Sir Leonards Räume lagen am oberen Ende des Flurs. Myrial lauschte an der Tür. Alles war ruhig. Seltsam, denn um diese Zeit wollte LP, wie Rulfan den Kleinen manchmal nannte, normalerweise an die Brust.
Myrials Unruhegefühl verstärkte sich. Sie klopfte sachte. »Vater?«, rief sie leise. Nichts rührte sich. Die junge Frau öffnete die Tür und schlüpfte ins Wohnzimmer. Die Öllampen brannten noch. Auch das war ungewöhnlich.
Ein wirbelnder Zweig krachte ans Fenster. Myrial zuckte zusammen. Dann ging sie zum nebenan liegenden Schlafzimmer, öffnete leise die Tür und lugte durch den Spalt.
Im Raum war es dämmrig grau, aber das Licht, das vom Wohnzimmer durch die Tür fiel, erhellte es ausreichend. Erleichtert atmete Myrial auf. Sir Leonard saß neben der Wiege auf einem Stuhl. Sie sah ihn von hinten. Er schien eingeschlafen zu sein, sein Kopf war leicht in den Nacken gesunken, seine linke Hand hing schlaff nach unten. Der Kleine lag wohl in seinem Bettchen.
Leise trat die junge Frau näher, um Sir Leonard nicht zu wecken. Warum nur wuchs sich dieses Unruhegefühl in starkes Herzklopfen aus? Und warum roch es hier so seltsam? Nach... nach...
Im selben Moment begriff auch Myrials Bewusstsein, was ihr Unterbewusstsein längst schon registriert hatte. Die Haltung des alten Mannes war nicht die eines Schlafenden. Dazu hing der Kopf zu weit hinten! Zudem waren die Finger an der Hand des hängenden Arms unnatürlich verkrampft.
Myrial machte zwei schnelle Schritte auf ihren Schwiegervater zu. Schräg hinter ihm stehend sah sie, dass er seinen Mund weit aufgerissen hatte. Sie bebte am ganzen Körper und glaubte plötzlich keine Luft mehr zu bekommen.
Ein letzter Schritt. Myrial stierte auf eine klaffende Wunde, die sich quer über Sir Leonards Hals zog. Gebrochene Augen starrten anklagend an die Decke, überall war getrocknetes Blut.
Ein trockenes Schluchzen stieg aus ihrer Kehle und mischte sich mit der furchtbarsten Angst, die sie jemals empfunden hatte. Sie fuhr herum und starrte in die Wiege. Selbst blankes Entsetzen war immer noch steigerbar. Das erfuhr die junge Frau in diesem Moment. Sie begann wie Espenlaub zu zittern und presste die Fäuste gegen die Schläfen.
»N-neiiiiiiiiiin!«
In ihren Schrei hinein erhob sich ein Schatten auf dem Kleiderschrank, der neben der Wiege in der Ecke stand. Myrial sah ihn aus den Augenwinkeln. Der Schatten sprang auf sie herab. Abwehrend hob sie die Hände, als der Angreifer bereits gegen sie prallte und sie umriss.
Unsanft knallte Myrial auf den Rücken. Und bekam nun erst recht keine Luft
Weitere Kostenlose Bücher