32 - Der Blaurote Methusalem
die Stammworte, die Stammworte! So ein Wort hat oft eine gar vielfältige Bedeutung. So heißt zum Beispiel das Wort Tschu soviel wie Herr, Pfeiler, Stock, Küche, Stütze, Schwein, alte Frau, zubereiten, verrichten, brechen, spalten, reparieren, freigebig, wenig, geneigt, naß machen, Gefangener, Sklave usw. Je nachdem es weicher oder härter, gedehnter oder rascher, leiser oder schärfer ausgesprochen wird. Und jede dieser verschiedenen Bedeutungen hat dann wieder ihre figürliche Anwendung, so daß es die allerfeinste Modulation erfordert, um wissen zu können, was gemeint ist. So hat das Grußwort sching noch weit über fünfzig andre Bedeutungen, unter denen Dinge, Eigenschaften und Tätigkeiten vorkommen, welche einander ganz und gar entgegengesetzt sind.“
„Und das soll man an der Aussprache hören?“
„Eigentlich sollte man es. Da aber selbst die Sprechwerkzeuge eines Chinesen oft nicht dazu ausreichen, so fügt man im Falle des Zweifels ein erklärendes Wort dazu. Fu heißt Vater, hat aber noch mehrere andre Bedeutungen. Soll es nun als Vater gebraucht werden, so fügt man das Wort Tschin, Verwandtschaft, hinzu; dann heißt es Fu-tschin, Fu, der Verwandte, der Vater.“
„Bleiben Sie mir mit allen Ihren Fu-tschins vom Leibe! Ich lobe mir meine Endungen. Wenn ich sage, ‚meining geliebtang Freundeng‘, so weiß jedes Kind, was ich meine, ohne daß ich meine Zunge übermäßig anzugreifen brauche. Hoffentlich finde ich bald einen wirklich gut sprechenden Chinesen, mit dem ich mich gut unterhalten und Ihnen beweisen kann, daß meine Grammatik die richtige ist. Für heut aber stimme ich unserm Gottfried bei, daß wir morgen den Tempel besuchen wollen. Auch ich bin begierig, ein solches Haus zu sehen.“
„Wir werden uns überhaupt die Stadt besehen und da an manchem Tempel vorüberkommen. Es wird wohl ein bewegter Tag werden, und so schlage ich vor, uns jetzt zur Ruhe zu begeben.“
Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall und wurde sofort befolgt.
Das Bett, welches für den Methusalem bereitstand, war niedrig, fein lackiert und mit Blumen sehr kunstvoll bemalt. Die Matratze war mit einem seidenen Tuch überdeckt; als Kopfkissen diente eine gestickte, mit wohlriechenden Kräutern gefüllte Rolle, und die Decke bestand aus gesteppter Seide mit weicher Ziegenhaareinlage. Von Seide waren auch die Vorhänge, welche das Bett von drei Seiten außer der Wand einfaßten, und in einem kostbaren Bronzeleuchter brannte eine Nachtkerze, vor welcher ein durchscheinender Schirm stand, dessen Malerei eine Landschaft vorstellte, über welche der Mond sein magisches Licht ergoß. Der Mond aber bestand in der Kerzenflamme hinter dem Gemälde.
Ähnlich waren auch die Betten der andern eingerichtet und ausstaffiert. Über Gottfrieds Lager hing eine Laterne herab, welche ihn heimatlich anmutete, denn sie besaß fast genau die Gestalt jenes Drachen, welcher daheim in der Wohnung des Methusalem hing und dem er vor der Abreise die bekannte Standrede gehalten hatte.
Als er sich jetzt lang auf das Lager streckte und seinen Blick zu dieser Laterne erhob, nickte er derselben zu und sagte: „Juten Abend, oller Drache! Tsching, tsching, tsching! Da hängst du jrad so über mich, wie jenseits des Ozeans dein Freund, Ebenbild und Jevatter. Auch deine Physiognomie ist so triste wie die seinige. Ich werde dir wohl von ihm jrüßen. Mach mich nur keine Dummheiten, wenn ich schlafe, denn ich bin dat nicht jewohnt! Komme mich ja nicht im Traume vor, und laß mir bis morgen früh in Ruh. Glotze mir auch nich so an; ich lasse mir nicht fixieren. Jedenke deiner Erziehung und tropfe mich nicht dat Öl ins Jesicht. Wenn du dat allens befolgst, so werden wir jute Freunde bleiben bis zur Scheidestunde um Mitternacht. Tsching, tsching! Schlaf wohl; ich nicke ein!“
Er ahnte nicht, daß diese ‚Scheidestunde um Mitternacht‘ ein prophetisches Wort gewesen war.
DREIZEHNTES KAPITEL
Der Tempelbesuch und seine Folgen
Die Gäste schliefen gut und lange. Als sie erwachten, bekamen sie den Tee im Garten serviert und erfuhren, daß der Mandarin bereits in Amtsgeschäften fort sei. Er hatte dem Hausmeister Auftrag gegeben, seine Stelle bei ihnen zu vertreten. Da sie hörten, daß er am Vormittag nicht heimkehren werde, beschlossen sie, sich inzwischen die Stadt anzusehen, und baten den Hausmeister, die Sänften bereitzuhalten.
Bevor sie aufbrachen, machte der Methusalem dem Juwelier den versprochenen Besuch. Gottfried begleitete ihn, in
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