32 - Der Blaurote Methusalem
der gewöhnlichen Weise hinter ihm herschreitend, während der Hund voranging.
Hu-tsin empfing sie mit großer Herzlichkeit und lud sie ein, in sein Familienzimmer zu treten, was gewiß eine Auszeichnung für sie war, da ein Chinese nicht so leicht einem Fremden einen Einblick in seine Familie gestattet.
Von einem eigentlichen Zimmer nach unserm Sinn war keine Rede. Es war ein großer Raum, welcher durch verschiebbare Kulissenwände beliebig abgeteilt werden konnte. Hinter einer dieser Wände trat die Frau hervor, welche sie schon gestern abend, aber bei der Laternenbeleuchtung nicht so deutlich wie jetzt, gesehen hatten. Sie besaß mongolische, aber sehr sanfte und ansprechende Gesichtszüge. Sie reichte den beiden ihre Hände und bat sie, eine Tasse Tee mit ihnen zu trinken, was auch gern geschah.
Der Tisch, an dem man Platz nahm, war weit niedriger als bei uns, und die Stühle hatten dem angemessen auch eine geringere Höhe. Es gehörte Übung und Gewohnheit dazu, sich da bequem zu fühlen.
Natürlich war das Ereignis des gestrigen Abends der Hauptgegenstand des Gespräches. Degenfeld schärfte dem Chinesen ein, ja nicht verlauten zu lassen, wie die Sache sich in Wahrheit zugetragen habe.
Während sie sich unterhielten, hörten sie unterdrückte Kinderstimmen hinter einer der Wände. Auf das Befragen Degenfelds sagte Hu-tsin, daß dort seine Kinder säßen und sich mit Lesen beschäftigten.
Kinder und lesen, in China! Das war dem Methusalem höchst interessant. Er bat, die Kleinen sehen zu dürfen, worauf der Juwelier die Wand zur Seite schob. Da saßen zwei Knaben und ein Mädchen, der älteste wohl nicht über elf Jahre, an einem kleinen Tisch und hatten eine Schrift vor sich auf demselben liegen. Sie standen sofort auf, kamen herbei und verbeugten sich so tief, daß ihnen die kleinen dünnen Zöpfchen nach vorn fielen. Die ernsten, zeremoniellen Gesichter, welche sie dabei machten, gaben ihnen ein außerordentlich drolliges Aussehen.
Methusalem bat sich das Buch aus und warf, als er es erhalten hatte, einen Blick auf den Titel und einen zweiten längeren auf den Inhalt.
„Hältst du das für möglich, Gottfried“, rief er aus; „eine Jugendschrift!“
„Wat? Eine Jugendschrift? Ist es die Möglichkeit? In China eine Jugendschrift? Wohl gar à la Spemanns Universum?“
„Ähnlich, mit Bildern, doch in richtigen Reimen geschrieben.“
„Dat ist mich neu! Dat habe ich diesen Chinesigen nicht zujetraut!“
„Oh, da hast du dich in einem großen Irrtum befunden. In China kann ein bedeutend größerer Prozentsatz der Bevölkerung lesen als zum Beispiel in Frankreich.“
„Aberst unsre deutschen Jungens sind den hiesigen doch jewiß noch über?“
„Natürlich!“
„Schade, daß ich nichts lesen kann! Sprechen tue ich zwar manches Wort, verstehen auch, aberst mit das Lesen, da hapert es jewaltig. Wat steht denn eijentlich drin? Wat wird die Jugend hier jelehrt?“
„Nur Gutes. Hier steht zum Beispiel:
‚Tszö pu hio,
Fei so i;
Yeu pu hio
Lao ho weï?‘“
„Und wat heißt dat?“
„Das heißt:
‚Kind nicht lernen,
Nichts wozu taugen;
Knabe nichts lernen,
Greis was tun?‘
oder weniger wörtlich: Wer als Kind nicht lernt, der wird ein Taugenichts; wer als Knabe nicht lernt, was soll der im Alter treiben? Das Buch hat den Titel ‚Santszö-king‘, das Dreiwörterbuch, weil jede Zeile nur aus drei Wörtern besteht.“
„Bitte, noch einen solchen Reim!“
„Gern; hier ist einer:
‚Phi pu pian,
Sio tschu kian
Phi wu schu,
Zie tsch mian.‘
Das heißt: Der auf Binsenmatten schrieb, der Bambusrinde als Papier nahm, diese Leute waren ohne Bücher, und dennoch studierten sie eifrig. Es werden hier den kleinen Lesern Beispiele aus der Geschichte zur Nachahmung vorgeführt. Ganz denselben Zweck hat auch der nachfolgende Reim:
‚Ju nang ing,
Ju ing siue,
Kia sui phin
Hio po tschue.‘
Das ist zu deutsch: Der beim Schein der Leuchtfliegen und der bei der Helle des Schnees studierte, obwohl sie von Haus aus arm waren, versäumten sie das Lernen nicht. Die beigegebenen Bilder illustrieren die angeführten Beispiele. Ich selbst habe nicht gewußt, daß es hier so vortreffliche Schriften für die Jugend gibt.“
„Dat wäre interessant für unsern juten Turnerstick. Er könnte für die chinesische Jugend Reime auf seine Endungen dichten, wofür man ihn hier jewiß unter die berühmten Sterne des jelehrten Horizontes versetzen würde. Schade, daß er nicht hier ist.“
Die Leute
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