32 - Der Blaurote Methusalem
welcher die Sprache von Tibet auch versteht.“
Das war viel gewagt. Dennoch blickte Liang-ssi in einer Weise umher, als ob er sehr wünsche, daß ein solcher Mann anwesend sei.
Glücklicherweise meldete sich niemand. Darum fuhr der Mandarin fort: „Weißt du, was gestern abend hier geschehen ist.“
„Ja.“
„Wer hat es dir gesagt?“
„Ich erfuhr es auf der Straße.“
„Man hat die Götter gestohlen. Und nun wir sie zurückbringen, wird der Sitz derselben zum zweitenmal entweiht.“
„Entweiht?“ fragte Liang-ssi im Ton des größten Erstaunens. „Wer hat das getan?“
„Diese beiden fremden Männer.“
„Diese? Nimm es mir nicht übel, aber ich muß dich fragen, ob du weißt, was ein Lama ist?“
„Ja, ich weiß es. Ein Lama ist ein Priester, ein Mönch, welcher in einem Kloster, in einem Tempel lebt.“
„Das sagst du und willst ein Doktor der Feder sein? Hast du noch nichts vom Dalai-Lama, vom Tsong Kaba, vom Hobilgan, vom Pantscham Ramputschi gehört? Sind das nicht Götter, deren Seelen auf die Auserwählten übergehen? Heißt nicht Lhasa die Stadt der hunderttausend Heiligen? Sind nicht im großen Kuren dreimal hunderttausend Lamas versammelt, welche niemals sterben können, weil ihre Seelen von einem Leib in den andern übergehen?“
Er hatte das in einem sehr überlegenen und zugleich vorwurfsvollen Ton gesagt. Der Methusalem stand hinter dem Gitter und bewunderte ihn. Er hatte dem jungen Chinesen, der nur Kaufmann war, diese Kenntnisse, diese Energie und diesen Mut nicht zugetraut. Liang-ssi schien plötzlich ein ganz anderer geworden zu sein.
Freilich kam ihm zustatten, daß die Chinesen sehr schlechte Geographen sind; ihr Nationalstolz verbietet ihnen, sich allzusehr mit anderen Ländern und Völkern zu beschäftigen.
Der junge Mandarin schien verlegen zu werden. Er antwortete in hörbar höflicherem Ton: „Ich habe diese Namen alle längst gehört.“
„Die Namen, ja, aber die Verhältnisse scheinen dir unbekannt zu sein. Der Dalai-Lama ist nicht der Untertan des chinesischen Himmelsherrn, denn letzterer sendet ihm jährlich kostbare Geschenke, um ihm seine Ehrfurcht zu erweisen. Jeder Lama ist ein Gott und hat alle Rechte eines solchen. Ein Lama kann einen Tempel errichten, um sich verehren zu lassen, und es gibt jenseits der großen Mauer berühmte Lamas, welche so heilig sind, daß Hunderttausende zu ihnen wandern, um sich ihre Sünden vergeben zu lassen und von ihnen die Unsterblichkeit zu erlangen. Zu diesen berühmten Wesen gehören die beiden, welche ihr da vor euch erblickt. Der eine ist sogar ein Lama des Krieges und hat die Feinde der Chinesen, die Oros (Russen), in vielen Schlachten besiegt. Sie sind nach Kuang-tschéu-fu gekommen, warum, das weiß ich nicht, denn ich konnte sie noch nicht fragen, aber sie werden sich hier nicht verweilen, weil sie die Ehrerbietung nicht gefunden haben, welche man ihnen widmen muß.“
„Sie haben sich auf den Thron unserer Götter gesetzt!“
„Wer will ihnen das verbieten, da sie ja selbst Götter sind? Erkundige dich, so wirst du erfahren, daß ich die Wahrheit sage. Ein Lama darf mit keinem Menschen speisen; kein anderer darf es sehen, wenn er sich wäscht. Wen er mit seiner Hand berührt, der ist geheiligt für die ganze Lebenszeit. Selbst ein Vizekönig muß, wenn ein Lama bei ihm eintritt, seinen Sitz verlassen, um desselben ihm anzubieten.“
„Davon steht nichts im Buch der Zeremonien zu lesen.“
„Weil sich hier im Land keine Lamas befinden. Aber schlage nur nach im Buch der Gebräuche der Völker jenseits der großen Mauer! Da wirst du es sogleich finden.“
„Ich werde nachschlagen. Aber wie kommt es, daß diese Lamas so verschieden gekleidet sind?“
„Weil es verschiedene Tempel gibt, deren Bewohner sich durch die Kleidung unterscheiden. Und zweifelst du daran, daß diese Heiligen den Göttern gleich zu achten sind, so blicke sie an! Sind sie nicht ganz in das All versunken? Schau diesen Lama des Krieges an! Ist ihm nicht die Unsterblichkeit auf die Stirn geschrieben?“
Turnerstick saß allerdings da, als ob ihm diese Erde ganz und gar gleichgültig sei.
„Ja“, gab der Mandarin zu. „Seine Seele scheint nicht in ihm zu sein.“
„Sie ist tief im Weltall versunken. Und sieh den andern an! Ist er nicht ein Gott der Schönheit und des Glückes zu nennen?“
Dem Mijnheer war es gar nicht göttlich zumute, und glücklich fühlte er sich auch nicht übermäßig; aber er machte ein möglichst
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