32 - Der Blaurote Methusalem
und hörte diesen Lama sprechen.“
„Welche Sprache ist es?“
„Tibetanisch.“
„Das verstehst du?“
„Ja. Ich war zweimal in Tibet.“
„So bleib! Du wirst den Dolmetscher machen.“
Jetzt hatte Turnerstick seine Rede beendet, ohne Liang-ssi bemerkt zu haben. Dieser letztere befürchtete, daß der Kapitän, wenn er ihn erblickte, durch ein Zeichen verraten werde, daß er ihn kenne, und hielt es infolgedessen für geraten, ihn gleich selbst anzureden. Darum rief er ihm in deutscher Sprache zu: „Wenn Sie gerettet sein wollen, so tun Sie so, als ob Sie mich nicht kennen, sonst sind Sie verloren.“
Der Kapitän drehte sich nach ihm um und antwortete: „Ich fürchte mich nicht vor diesen Kerls. Ich habe meine Pistolen mit, vor denen sie alle ausreißen.“
„Diese Berechnung ist falsch. Sie haben ein großes Verbrechen begangen, und wenn Sie auch hier entkämen, würde man Sie doch verfolgen und wir alle müßten die Folgen Ihres Fehlers miterleiden.“
„Alle Wetter, das ist dumm!“
„Ja, dumm von Ihnen. Ich werde aber versuchen, Sie herauszureißen. Ich gebe Sie für einen heiligen Lama aus Lhasa aus. Setzen Sie sich getrost nieder, als ob Sie ein Recht hätten, auf diesem Postament zu sitzen, und auch Sie, Mijnheer, müssen ganz dasselbe tun.“
„Sonst gibt es keinen Ausweg?“
„Nein.“
„Gut! Aber wenn so ein Schlingel mir abermals unter die Nase räuchert, so gebe ich ihm eine Ohrfeige, an die er längere Zeit denken soll. Steigen Sie wieder auf Ihren Thron, Mijnheer!“
„Weder opstijgen?“ fragte der Dicke kleinlaut.
„Ja. Sie hören doch, daß es uns sonst schlimm ergehen kann.“
Er setzte sich wieder nieder und spannte seinen Fächer auf. Der Dicke kletterte auf das Postament und nahm seine alte Stellung ein. Liang-ssi nahm ganz unbefangen dem Mandarin den Schirm aus der Hand und gab ihn an den Holländer zurück, wobei er sagte: „Nun bewegen Sie sich nicht, und starren Sie immer vor sich hin, gerade wie leblose Gestalten.“
Sie folgten, indem der Mijnheer seinen Schirm wieder aufspannte, diesem Gebot.
Die Anwesenden hatten dem Gebaren Liang-ssis zugesehen, ohne ihn zu hindern; aber auf ihren Gesichtern war das größte Erstaunen zu lesen.
Es befanden sich Mandarinen da, welche bedeutend älter waren und auch im Rang höher standen als der junge Beamte, welcher das Wort geführt hatte; aber sie schienen ihn zu kennen und zu wissen, daß die Angelegenheit bei ihm in guten Händen sei. Er seinerseits tat, als ob es ganz selbstverständlich sei, daß er die Sache weiterführe. Er sagte in zornigem Ton zu Liang-ssi: „Wie kannst du es wagen, mir den Schirm zu nehmen?“
„Weil er dir nicht gehört.“
„Und“, fuhr der Mandarin in noch stärkerem Ton fort, „wie darfst du dich unterstehen, mich ‚du‘ zu nennen?“
„Weil du mich ebenso nennst.“
„Ich bin Kuan-fu und Moa-sse!“
„Kannst du behaupten, daß ich nicht dasselbe bin?“
„Wie willst du ein Kuan-fu sein, da du nicht die Kleidung eines solchen trägst!“
„Wer ein Gelübde getan hat, soll alle Zeichen seiner Würde ablegen, bis es von ihm erfüllt worden ist.“
Liang-ssi spielt ein gewagtes Spiel; aber er hatte es nun einmal begonnen und mußte es nun auch zu Ende führen. Der Mandarin musterte ihn mit mißtrauischem Blick und sagte dann in milderem Ton: „Ein Gelübde? Welches denn?“
„Bist du ein Priester, dem ich es anvertrauen kann?“
„Nein. Behalte es für dich. Wo kommst du her?“
„Aus Tsching-tu in der Provinz Sze-tschuen.“
„Das ist weit von hier!“
„Mein Gelübde gebietet mir, nach Kuang-tschéu-fu zu gehen und da täglich dreimal dieses Haus der hundert Himmelsherren zu besuchen. Meine Heimat liegt hoch oben an der Grenze der Wüste, und so bin ich nach Tibet gekommen und habe die Sprache dieses Landes gelernt. Als ich mich jetzt hier im Tempel befand, hörte ich viele Leute sprechen und sodann eine Stimme, welche tibetanisch redete. Ich kam herbei, um zu sehen, wer das sei. Ich habe nichts Unrechtes getan, und du redest zu mir, als ob ich ein Verbrecher wäre.“
„Was hast du soeben mit diesen Menschen verhandelt?“
„Ich habe sie gefragt, auf welche Weise und warum sie hierher gekommen sind. Da hörte ich, daß sie Lamas seien, die man in ihrer heiligen Ruhe gestört hat. Sogar den Schirm hast du dem Ehrwürdigen entrissen. Ich habe ihm denselben wiedergegeben.“
„Sagst du die Wahrheit?“
„Erkundige dich! Es wird wohl jemand hier sein,
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