32 - Der Blaurote Methusalem
seine Unschuld beteuerte und der Freund ihm bezeugte, daß er nichts gewußt habe. Beide wurden in das Sing-pu gebracht und dort wie wilde Tiere in Käfige gesperrt. Einer der Bekannten wollte meinem Vater wohl, weil dieser ihm viel Gutes getan hatte. Er schlich sich des Nachts zu ihm, öffnete den Kerker und ließ ihn entkommen. Der Vater kam für einige Augenblicke zu uns, um Abschied von uns zu nehmen. Seit dieser Stunde haben wir nichts von ihm gehört.“
Der Methusalem hatte diesen Bericht mit ungewöhnlicher Teilnahme vernommen.
„Sonderbar!“ sagte er. „In welcher Stadt ist das geschehen?“
„In Seng-ho.“
„Und wie ist Ihr Geschlechtsname?“
„Pang.“
„Pang, in Seng-ho! Werden Sie mir erlauben, Sie nach Ihrem Milchnamen zu fragen, obgleich das eigentlich eine Unhöflichkeit ist?“
„Gern! Ich habe Ihnen meine Freiheit zu verdanken; wie könnte ich Ihnen da wegen dieser Frage zürnen! Mein Milchname ist ‚Fuk-ku‘, was ‚Ursache des Glückes‘ bedeutet. Die Eltern waren bisher kinderlos gewesen; darum gaben sie mir, ihrem Erstgeborenen, diesen Namen, um anzudeuten, daß sie nun glücklich seien.“
„Welch ein Zusammentreffen! Nicht wahr, Ihre Mutter hieß Hao-keu, ‚lieblicher Mund‘?“
„Ja. Woher wissen Sie das?“
„Sie hatten noch einen Bruder und zwei Schwestern. Der erstere hieß Yin-Tsian, Güte des Himmels, und die beiden letzteren Méi-pao, schöne Gestalt, und Sim-ming, ‚Herzenslicht‘?“
Der Chinese fuhr einen Schritt zurück und rief: „Herr, was höre ich! Sie kennen die Namen meiner Verwandten!“
„Noch mehr! Nicht wahr, Ihr Vater heißt Ye-kin-li?“
„Ja, ja! Wer hat Ihnen diese Namen genannt?“
Da legte Degenfeld ihm die Hand auf die Achsel und antwortete: „Sagen Sie mir zunächst, ob Sie stark genug sind, so ganz unvorbereitet eine für Sie hochwichtige und überraschende Neuigkeit zu hören.“
„Ist es eine traurige?“
„Nein, eine beglückende.“
„Nun, dazu bin ich stark genug. Die Stimme des Glückes vernimmt man stets gern.“
„Sie fragten, von wem ich die Namen gehört habe, und ich antworte Ihnen: Von Ihrem Vater.“
„Von – ist's wahr, ist's wahr?“
„Ja. Er ist es, dem ich mein Kong-Kheou gegeben habe, daß ich nicht eher zurückkehren werde, als bis ich imstande bin, seine Familie oder wenigstens sichere Kunde derselben zu bringen.“
„Er lebt also, er lebt?“
„Er befindet sich wohl, und es geht ihm sehr gut.“
„O Himmel, o Himmel! Welch eine Nachricht, welch eine Botschaft!“ Er war ganz außer sich vor Entzücken. Er dachte zunächst nicht daran, sich nach dem Näheren zu erkundigen. Es war ihm einstweilen genug, zu wissen, daß sein Vater noch lebe. Er rannte fort und eilte zwei-, dreimal um das Deck. Dann endlich blieb er wieder vor dem Methusalem stehen und sagte: „Herr, fast kann ich es nicht glauben. Acht volle Jahre habe ich vergeblich auf eine Nachricht von dem Verschollenen gewartet; ich mußte ihn für tot halten. Und nun höre ich so plötzlich, so ganz unerwartet, daß er in Deutschland lebt! Es ist ein Wunder! Es ist ein ebenso großes Wunder wie dasjenige, daß Sie zu Sei-tei-nei wollen, dessen Untergebener ich bin. Wie herrlich trifft beides zusammen! Mir ist, als ob ich träume!“
„Auch ich bin tief ergriffen, mein Freund. Ich fühle mich sehr glücklich, Sie gefunden zu haben, denn dadurch erspare ich eine lange Zeit des Suchens.“
„Oh, suchen werden Sie, werden wir doch noch müssen!“
„Wieso?“
„Sie sollen doch nicht nur mich, sondern auch die Mutter und die Geschwister finden?“
„Natürlich! Hoffentlich aber wissen Sie, wo sie zu treffen sind?“
„Nein, eben das weiß ich nicht.“
„Wie? Sie wissen das nicht? Sie sind von ihnen getrennt worden?“
„Ja. Ich habe ebensolang, acht Jahre lang, sie weder gesehen noch etwas von ihnen gehört.“
„Wie ist das möglich?“
„Es ist sehr einfach. Sie wissen wohl, daß in China die Verwandten eines Übeltäters sein Vergehen mit zu büßen haben?“
„Ja.“
„Es ist das wenigstens in den meisten Fällen so üblich. Als der Vater entkommen war, bemächtigte man sich unsrer. Wir wurden eingesperrt, aber einzeln, damit wir nicht miteinander verkehren könnten. Ich und der Bruder sollten getötet werden, also die Strafe der Aufrührer erleiden. Man wollte unsere Köpfe auf die Mauer stecken. Die Mutter und die Schwestern aber sollten als Sklavinnen verkauft werden. Dieses Urteil wäre sofort vollstreckt
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