32 - Der Blaurote Methusalem
so sehr abweisend wie anderswo. Man
sieht ein, daß der Umgang mit ihm große Vorteile bringt; man möchte
sich diese Vorteile wohl gern aneignen, sieht aber durch die Gesetze
einen starren Zaun um sich gezogen, welcher nicht zu übersteigen ist.
Höchstens darf man sich erlauben, heimlich eine Lücke durch denselben
zu brechen.
Eine solche Lücke war es, welche sich dem Methusalem öffnete, als
der Tong-tschi ihm und seinen Gefährten die Gastfreundschaft anbot und
einen Paß versprach.
Über eine Woche hatten sie in Hongkong bleiben müssen, bevor die
Untersuchung gegen die Piraten so weit gediehen war, daß die Vernehmung
der Zeugen nicht mehr vonnöten war. Der Tong-tschi war mit dem Ho-po-so
schon am ersten Abend abgereist, und beide hatten dem Studenten gesagt,
wo, wie und wann er sie in Kanton finden könne.
Diesen Namen für die Stadt anzuwenden ist falsch. Kanton oder
vielmehr Kuang-tung heißt die Provinz. Der Name der Hauptstadt aber ist
Kuang-tschéu-fu. Sie liegt 150 Kilometer vom Meer entfernt am
nördlichen Ufer des Perlstroms und bildet ein unregelmäßiges Viereck,
welches von einer neun Kilometer langen Mauer umgeben wird. Diese ist
auf Sandsteinfundament aus Ziegeln gebaut, acht Meter hoch und sechs
Meter dick und wird von fünfzehn Toren durchbrochen. Eine Quermauer,
durch welche vier Tore gehen, scheidet die Alt- oder Tatarenstadt von
der Neu- oder Chinesenstadt. An den Seiten schließen sich ausgedehnte
und volkreiche Vorstädte an, welche der zahlreichen Bevölkerung doch
nicht Platz genug bieten, weshalb über dreihunderttausend Menschen auf
Flößen, Booten und ausgedienten Schiffen wohnen, die an die Flußufer
befestigt sind, aber so oft ihre Plätze wechseln, daß für den
eigentlichen Stromverkehr nur eine schmale Wasserrinne frei und offen
bleibt.
Man schätzt die Zahl dieser Boote, welche Sampan genannt werden, auf
über achtzigtausend. Die mobilen Bewohner derselben werden mit dem
Namen Tan-kia bezeichnet. Auf diesen Sampan herrscht ein so
wechselvolles Leben, daß der Fremde wochenlang zuschauen könnte, ohne
müde zu werden. Doch ist es für ihn keineswegs geraten, mit allzu
großem Vertrauen ein solches Boot, besonders des Nachts, zu besteigen,
denn die Tan-kia sind Menschen, vor denen man sich wohl in acht zu
nehmen hat. Sie gehören der ärmsten Klasse, der Hefe des Volkes an,
haben entsetzlich mit der Not des Lebens zu ringen und finden dennoch
alle Veranlassung, die Mandarinen als Blutegel zu betrachten, vor denen
sie die Tasse magern Reis, die ihren Hunger stillen soll, verbergen
müssen. Da wird die Not dann stärker als die Ehrlichkeit, und so führen
die meisten Tan-kia ein Leben, welches die Augen des Gesetzes mehr oder
weniger zu scheuen hat.
Man lockt die Fremden unter den verschiedenartigsten Vorspiegelungen
auf die Boote. Wohl dem, der dann nur als gerupftes Hühnchen
davonschwimmen darf! Tausende sind verschwunden – vielleicht in
die Mägen der Fische, ohne daß eine Spur von ihnen aufzufinden war.
Längs des Flusses stehen die fremden Faktoreien mit ihren großen,
wohlgepflegten Gärten und riesigen Warenhäusern, welche Hong genannt
werden.
Scha-mien, das Europäerviertel, hat eine sehr malerische Lage. Es
war ursprünglich eine in den Perlfluß vorspringende Landzunge und wurde
durch einen hundert Fuß breiten Kanal vom Land abgetrennt. Jetzt ist es
ein Gemeinwesen für sich. Drei Brücken, welche durch Gittertore
verschlossen werden können, führen nach Kanton hinüber, und die
eleganten Steinhäuser liegen zwischen grünen Grasplätzen, duftenden
Gärten und schattigen Alleen so angenehm, wie hier nur möglich.
Hier legte der Dampfer der ‚China Navigation Company‘ an, welchen
die sechs Reisenden doch noch benutzt hatten, um nicht möglicherweise
abermals auf eine Piratendschunke zu geraten.
Obgleich der Dampfer den letzten Teil der Strecke nur mit halber
Schnelligkeit fuhr, war es doch absolut unbegreiflich, daß er die umher
jagenden Boote nicht dutzendweise unter sich begrub.
Und wie ging es erst am Landeplatz zu! Da drängten sich Hunderte und
Aberhunderte auf die aussteigenden Passagiere los, um einige Sapeken zu
verdienen. Das schrie, brüllte, kreischte durcheinander, daß man die
einzelnen Stimmen fast gar nicht zu unterscheiden vermochte. Da boten
sich Sänftenträger, Wäscher, Barbiere, Bootsleute, Führer, Händler,
Dolmetscher an, indem einer den andern zur Seite stieß, um sich
vorzudrängen.
Der Methusalem stieg gar nicht aus. Er
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