32 - Der Blaurote Methusalem
auf der Sänfte getragen zu werden; macht schnell!“
Diese Aufforderung konnte den Leuten nicht gelegener kommen. Der ‚hohe Generalmajor‘ wurde augenblicklich von zehn, zwölf Händen ergriffen und auf den Kasten der Sänfte gesetzt. Ebenso rasch hoben die Kulis die letztere empor und traten zwischen dem Gottfried und Richard mit Liang-ssi ein.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und wurde von einem nicht enden wollenden Jubel der Menge begleitet.
Turnerstick machte erst eine Bewegung, um abzuspringen, fand sich aber schnell in seine Lage, welche er für eine sehr ehrenvolle hielt. Auf der Höhe der Sänfte war er ja der Gefeiertste von allen. Er grüßte eifrig und huldvollst mit den Händen, wobei er den Klemmer unaufhörlich verlor und wieder auf die Vorlukennase setzen mußte, und antwortete auf die vielen ‚Tsching tschings‘, die ihm zugerufen wurden, mit seinen besten chinesischen Ausdrücken.
Vor der Tür des Hotels wurde er abgesetzt, verbeugte sich vor der Menge und rief mit lauter Stimme: „Meine verehrtesteng Herreng und liebreicheng Dameng! Es ist mir gelunging, die Piratung zu besiegeng und ihnen ihre Dschunking abzunehmang! Sie haben mich dafür mit Huld empfanging und im Triumph hierher getragong. Gestatteng Sie mir, Ihneng meineng Dank zu erstattung, und lebing Sie für einstweilang wohl. Hoffengtlich werdeng Sie bald noch mehr vong uns hörang. Ich wünsche Ihneng allerseits einang gutung Morging!“
Dann verbeugte er sich abermals und verschwand in der Tür. Während das Publikum, welches kein Wort verstanden hatte, dennoch in beifällige Rufe ausbrach, trat er in das Zimmer, in welchem sich seine Gefährten bereits befanden. Er schlug dem Gottfried, der ihm am nächsten stand, auf die Achsel und sagte: „Nun, Ritter von Bouillon, was sagen Sie zu diesem famosen Einzug?“
„Dat Sie ihn besser jesehen haben als ich, weil Sie ja auf dem Laufkorb saßen.“
„Herrlich, herrlich! Nicht wahr, Mijnheer?“
„Gewisselijk, op mijn woord!“ beteuerte der Dicke.
„Ja, das war ein ganz andrer Empfang als gestern. Heut sind die ‚Tsching tschings‘ nur so um mich herumgeflogen. Ich habe mich aber auch aufs herzlichste bedankt. Hören Sie es? Die Leute jubeln noch immer. Ich muß mich ihnen wirklich noch einmal zeigen.“
Er machte das Fenster auf, grüßte mit dem Fächer und schrie ein letztes, kräftiges ‚Tsching tsching tsching‘ hinaus …
ELFTES KAPITEL
Landeinwärts
China ist ein wunderbares Land. Seine Kultur hat sich in
ganz andrer Richtung bewegt und ganz andre Formen angenommen als
diejenige der übrigen Nationen. Und diese Kultur ist hochbetagt,
greisenhaft alt. Die Adern sind verhärtet und die Nerven abgestumpft;
der Leib ist verdorrt und die Seele vertrocknet, nämlich nicht die
Seele des einzelnen Chinesen, sondern die Seele seiner Kultur.
Schon Jahrtausende vor unsrer Zeitrechnung hatte dieselbe eine Stufe
erreicht, welche erst in allerneuester Zeit überschritten zu werden
scheint, und zu diesem Fortschritt ist China mit der Gewalt der Waffen
gezwungen worden. Derjenige französische Missionar, welcher das Reich
der Mitte le pays de l'âge caduc, das Land des hohen Alters nannte, hat
sehr recht gehabt. Es ist da eben alles greisenhaft, sogar die Jugend.
Wer die Kinder beobachtet, lernt die Eltern genau kennen. So ist es
auch mit dem Volk. Eine Nation ist unschwer nach dem Tun und Treiben
ihrer Kinderwelt zu beurteilen. Die Arbeit des Kindes ist das Spiel.
Wie aber spielt der Chinese?
Der Europäer sieht im Spiel nur das Mittel zur körperlichen und
geistigen Kraftentwicklung. Er will die Muskeln stärken, die Knochen
festigen, die Brust erweitern, die Willenskraft erwecken, den
Scharfblick üben und das Gemüt bereichern. Das Spiel soll im Knaben den
spätem Mann, im Mädchen die einstige sorgliche, treue Hüterin des
Hauses erkennen lassen.
Anders bei den Chinesen. Wo sieht man da die roten Wangen und
blitzenden Augen, wo hört man das lustige helle Jauchzen der Kinder?
Fast nirgends! Der chinesische Knabe tritt aus seiner Tür langsam und
bedächtig, schaut um sich wie ein Alter, schreitet ohne irgendeine
lebhafte Bewegung nach dem Spielplatz hin und sinnt nun nach, womit er
sich beschäftigen werde. Er ist ein Erwachsener in verkleinertem
Maßstab. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn
er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt
sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen.
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