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327 - Mit eisernem Willen

327 - Mit eisernem Willen

Titel: 327 - Mit eisernem Willen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stern
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den Stab in der Radmitte. Er ragte an beiden Enden heraus und lief unten spitz zu. Der Medizinmann stellte den Stab auf den großen flachen Stein. Dann hob er den Kopf und schloss die Augen. Gebannt blickte das Volk auf das Orakel.
    Ein zischender Laut entfuhr Kuxetlan. Ruckartig zog er an der Liane. Das Orakel drehte sich unter hellem Schnurren, drohte zu kippen und drehte sich weiter.
    Hunapee schluckte hart, als das Orakel auslief. Das Gebilde fiel mit einem trockenen Klacken um, wirbelte umher, drehte sich immer langsamer um die eigene Achse und blieb schließlich liegen.
    Die Spitze zeigte auf Hunapee.
    Der Kundschafter wagte sich nicht zu bewegen. Er fühlte, wie ihm der Schweiß über die Rippen auf den Bauch rann.
    Kuxetlan erhob sich und blickte feierlich in die Menge. Sein Arm schoss hoch, sein fetter Zeigefinger deutete auf Hunapee. »Ha’tuu«, sagte er knapp.
    »Ha’tuu!«, schrie die Menge. Einige sprangen jubelnd in die Luft. Hunapees Glieder begannen zu zittern. »Nein! Non, je ne veux pas!«, brachte er ängstlich hervor. Vier der Männer stürzten sich auf ihn. Der Kundschafter wehrte sich, lag aber gleich darauf im Dreck, die Knie zweier Krieger ins Kreuz gepresst.
    Hunapee schmeckte Blut in seinem Mund, Staub knirschte zwischen seinen Zähnen. Er hörte den Medizinmann vom Ende der Schreckenszeit reden, von einem neuen paradiesischen Zeitalter, welches mit dem Opfer der Sonnenköpfigen eintreten werde. Jedoch müsse ein letztes Tribunal abgehalten werden.
    Verzweifelt bäumte Hunapee sich auf, stemmte sich gegen die Krieger, so weit es seine Kräfte zuließen. Er hatte nicht die geringste Chance; sie nagelten ihn mit Händen und Knien in den Staub.
    Vor Hunapees Augen tauchten die Füße des Medizinmannes auf. Die Kette aus silbernen Klammern, die sie einst auf dem steinernen Platz gestohlen hatten und die Kuxetlan um den Knöchel trug, gleißte im Sonnenlicht. »Du wirst Ha’tuu besänftigen, mein Freund«, hörte er Kuxetlans volltönende Stimme. »Das Orakel hat gesprochen. Du hast es gesehen. Ihr alle habt es gesehen!« Die Füße drehten sich um die eigene Achse und verschwanden. Staub wallte auf.
    »Ha’tuu wird sich milde zeigen«, fuhr der Medizinmann fort. »So lange, bis wir die Sonnenköpfige herbeigeschafft haben, um der großen Schlange ihren Frieden zu geben. Marr’yn hat uns ihre Tochter gesandt. Die Sonnenköpfige wird das Gleichgewicht herstellen, indem wir sie Ha’tuu als Geschenk überreichen. Ha’tuu wird dankbar sein und fortgehen. Sie wird sich einen Platz suchen, an dem Ungleichgewicht herrscht, und uns für immer verlassen. Ehre sei dir, Marr’yn!«
    »Ehre sei dir, Marr’yn!«, riefen die anderen und reckten die Fäuste. Einige neigten ihre Häupter und schlossen die Augen, andere sahen dankbar gen Himmel.
    ***
     Dem Kundschafter war zum Heulen zumute. Er wusste nicht, wann er zuletzt geweint hatte, aber zum ersten Mal in seinem Leben konnte er nachempfinden, wie es denen erging, die man als Ha’tuus Opfer auswählte.
    Die Krieger zogen ihn auf die Beine. Hunapee unternahm einen letzten verzweifelten Fluchtversuch. Er schlug um sich, riss sich los, doch ein harter Tritt in die Kniekehlen beendete sein Vorhaben. Abermals stürzte er in den Dreck.
    Sie fesselten ihm mit Lianenschnüren die Hände auf den Rücken, zogen ihn hoch und trieben ihn vor sich her. Hunapee kannte den Weg. Nachdem sie einen knorrigen Baum passiert hatten, beschritten sie den Pfad der Erlösung. Bei jedem zweiten Schritt stach man ihm eine Speerspitze in den Rücken. Die Stammesmitglieder folgten dichtauf, er hörte sie johlen.
    Bald würden sie den Blutschrein erreichen. Der Stamm hatte ihn vor der Felsenkette, die das Dorf schützte, vor vielen Generationen aufgebaut. Hier, auf dem Platz der großen Marr’yn, mussten alle Opfer Abbitte leisten.
    Zwischen den Gräsern tauchte der Schrein auf. Hunapee schluckte schwer und verfluchte sein Schicksal. Früher hatte er auf die Opfer hinabgesehen, die sich im Staub wanden – jetzt war er einer von ihnen.
    Die Gruppe gesellte sich um den steinernen Schrein. Auf seinen kniehohen Wänden klebte getrocknetes, beinah schwarzes Blut. Marr’yns Bild, umgeben von einem Rahmen aus rötlichem Stahl, hing unter einem Felsvorsprung. In geschwungener Schrift stand ihr Name darunter.
    Hunapee versuchte sich den Schweiß aus den Augen zu blinzeln. Große Marr’yn, dachte er verzweifelt, kannst du denn nichts für mich tun?
    Sie konnte nicht. Ihr Haar aus

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