327 - Mit eisernem Willen
Sonnenlicht glitzerte, doch sie blieb stumm.
Ein Fauchen erklang. Über Hunapees Körper rieselte ein Schauer, der jedes Härchen aufstellte. Unter einer Agave kroch der Wächter des Bildnisses hervor: ein gewaltiger Panthaa, den Kuxetlan als Jungtier im Dschungel gefunden und aufgezogen hatte. Mit einem langen Seil an einen Pflock gebunden, attackierte er jeden, der sich dem Bild näherte. Der Medizinmann war der Einzige, dem er folgte.
Das Tier fixierte Hunapee aus schrägstehenden Augen. Sein Fell glänzte, und Speichel tropfte in dicken Fäden zu Boden, als es seine scharfen Zähne fletschte.
Kuxetlan trat neben den Kundschafter. »Knie nieder«, sagte er. Hunapee tat, wie ihm geheißen. In ihm brodelte ein Gemisch aus Todesangst und Fluchtgedanken. Er hatte sich noch nie so hilflos und gleichzeitig so getrieben gefühlt. Zugleich war ihm bewusst, dass eine Flucht unmöglich war.
Aber war es nicht besser, als Held zu sterben und als derjenige in die Geschichten des Stammes einzugehen, dem die Ehre zuteilwurde, das letzte Opfer zu sein?
Der Panthaa schnurrte und schmiegte sich an Kuxetlan. Der Medizinmann strich ihm fahrig über den Kopf. Dann stellte er sich vor Marr’yns Bild und riss die Arme in die Höhe. »Große Marr’yn!«, rief er den Wolken zu. »Wir danken dir, dass du uns in deiner unermesslichen Güte eine deiner Töchter geschickt hast, um Ha’tuu von uns zu nehmen! Wie es das Orakel befiehlt, werden wir einen der Unsrigen zu deinem Wohle opfern! Möge es die große Schlange besänftigen! Unser Fleisch ist dein, dein Fleisch ist unser!«
»Unser Fleisch ist dein, dein Fleisch ist unser!«, gab die Menge zurück.
Ein paar Krieger packten Hunapee und schleppten ihn mit sich. Den Kundschafter verließen die letzten Kräfte; seine Glieder fühlten sich an, als bestünden sie aus Teig. Sie stießen ihn grob den Pfad entlang, doch kein Laut der Klage kam mehr über seine Lippen.
Schließlich erreichten sie die Opferstätte. Dunkle Linien von verkrustetem Blut zogen sich über den Boden. Neben den heiligen Ketten an den eisernen Ringen zitterten die Federreste eines Opfertieres. Die Ketten waren ein Überbleibsel aus der Zeit vor dem Weltendunkel, ehe die Götter die Sterne schluckten und wieder ausspien. Zu ihnen gehörte auch der bezahnte Eisenstift, den Kuxetlan bei sich trug.
Hunapee betrachtete die Handknochen und Totenschädel, die verstreut herumlagen. Wie oft war er dabei gewesen, wenn sie einen der Ihren geopfert hatten! Jetzt konnte er nicht einmal mehr Schrecken verspüren. Eine große Gleichgültigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen.
Kuxetlan trat vor ihn. Um seinen Hals baumelte an einem Lianenband der Eisenstift, mit dem er unter leisem Scharren die Schellen an den Enden der Ketten öffnete. Hunapee musste seine Hände hineinlegen. Der Medizinmann presste die Metallschalen zusammen, klackend rasteten sie ein.
Der Stamm machte sich auf den Rückweg. Hunapee fixierte das dunkle Loch in der Felsenwand. Der Eingang zum Bun’ker, wie der überlieferte Begriff für die Schlangenhöhle lautete.
Das Dschungelvolk hatte ihn vor vielen Jahren entdeckt und erkundet. Die Erzählungen berichteten, wie man Marr’yns Bild darin fand – das Abbild einer Göttin, die die Sonne auf ihrem Haupt trug.
Die Schamanen jener Zeit führten unzählige Knochenorakel durch und fanden heraus, dass die früheren Bewohner des Bun’kers ihrer Gottheit abgeschworen hatten, indem sie die heilige Stätte verließen und Marr’yns Bild zurückließen. Doch nun hatte die Göttin eine neue Heimat und neue Anhänger gefunden.
Die Trommeln begannen zu schlagen. Hunapee schloss die Augen. Gleich würde das heilige Lied erklingen.
Als ihre Vorfahren damals das Eigentum der Gottlosen an sich nahmen, fanden sie einen seltsamen Kasten aus Holz und Metall. Ein Trichter war daran angebracht, und eine kleine Kurbel. Wenn man sie drehte und einen Metallstab auf eine schwarze Scheibe setzte, kamen Laute aus dem Trichter, wie sie noch niemand zuvor gehört hatte. Es war, als spräche Marr’yn selbst zu ihnen.
Lange Jahre danach hatte sich Ha’tuu in diesem Bun’ker eingenistet. Der Stamm fand heraus, dass die Schlange durch die göttlichen Töne angelockt worden war. Also musste sie Marr’yns Geschöpf sein. Nun wartete sie geduldig auf Beute.
Die sie gehorsam bekam. Nun war Hunapee als letztes Opfer an der Reihe. Die Trommelschläge ließen jede Zelle in seinem Körper vibrieren. Wie oft hatte er selbst mit
Weitere Kostenlose Bücher