33 - Am Stillen Ozean
ihn aber nicht. Jetzt bemerkte ich, daß mir der Hauptschlüssel fehlte. Ich hatte ihn in der Hand gehabt, als ich in den Setzersaal trat, und ihn wahrscheinlich dort fallen lassen. Er lag nicht da. Jedenfalls hatte ihn der Lehrling aufgehoben, während ich mit dem andern rang, und sich mittels des Schlüssels davongemacht.
Das war fatal, denn ich war nun gezwungen, Lärm zu schlagen, was ich gern so lange wie möglich vermieden hätte. Ich rief und rief sehr lange, ehe sich die Hintertür des Vorderhauses öffnete und der Hausmann in den Hof trat.
„Wer ruft?“
Ich nannte mich ihm und fragte dann, ob er seinen Neffen gesehen habe.
„Der Schlingel ist wieder ausgegangen, ohne es mir zu sagen, und noch nicht heimgekehrt.“
„Sehen Sie einmal nach dem vorderen Tor, und machen Sie dann hier unten auf!“
Schon nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück.
„Was ist denn das? Das Tor ist offen und Ihr Hauptschlüssel steckt darin.“
„Öffnen Sie nur zunächst hier!“
Er kam herauf und staunte nicht wenig, einen Gefangenen zu sehen. Ich erzählte ihm alles, und ohne sich weiter um mich zu bekümmern, sprang er davon. Ich folgte ihm, nachdem ich den Pseudo-Assessor eingeschlossen hatte. Der Lehrling war in seine Wohnung geeilt, hatte sich seiner Kleider, einiger Wäsche und der Barschaft des Oheims bemächtigt und war dann entwichen.
Der Hausmann war so ergrimmt, daß er selbst zur Polizei rannte, trotzdem es sich um einen Anverwandten handelte, den er allerdings von jeher gar nicht zu tief im Herzen getragen hatte.
Die Polizei erschien und bemächtigte sich des Gefangenen.
Die Untersuchung ergab, daß der Herr Assessor ein polnischer Schriftsetzer sei, der längere Zeit in Berlin gearbeitet hatte. Später war er mit seiner Freundin, einer geborenen Polin, auf Reisen gegangen.
Die ‚Schauspielerin‘ ward nicht aufgefunden. Jedenfalls hatte der Setzerlehrling, welcher auch spurlos verschwunden blieb, sie gewarnt und mit ihr beizeiten die Stadt verlassen.
Der Herr Assessor wurde zu einer längeren Haft verurteilt.
Nach Sibirien
Das freundliche, an der Wolga liegende Subzow lag hinter mir, und die Troika, deren ich mich bediente, flog auf der Straße nach Moskau dahin. Der Kutscher sang in seiner ewig guten Laune das alte, durch ganz Rußland bekannte und beliebte Lied vom Dreigespann:
Das Licht war flackernd im Verglimmen,
Das Feuer im Kamin verglüht –
Da klang's in mir wie fremde Stimmen:
Ein Traum bezaubert mein Gemüt.
Fern kommt ein Dreigespann gezogen,
Rollt laut vom Knüppeldamm herbei,
Doch trüb und klagend unterm Bogen
Erklingt das Glöckchen von Waldai.
Früh hat's den Fuhrmann fortgetrieben,
So schwül ward's ihm um Mitternacht –
Er sang ein Lied von seiner Lieben,
Von ihrer blauen Augen Pracht:
Ach, blaue Augen, warum brennt ihr
So tief in meine Seele mir!
Ach, böse Menschen, warum trennt ihr
Zwei Herzen, die so eins wie wir!
Leb', Moskau, wohl, so lieb und teuer;
Leb' wohl, leb' wohl, du süße Maid!
Ich sterbe wie ein rauchend Feuer,
Vergessen in der Einsamkeit!
Die Pferde liefen, was sie konnten, dennoch suchte der Kutscher ihren Lauf teils durch Schnalzen und Klatschen mit der Peitsche, teils durch die freundlichsten Ausrufe noch zu beschleunigen.
„Schneller, mein Schimmel, mein weißes Täubchen! Ich gebe dir auch süßes Zuckerchen. Willst du? Nicht? Nun, da hast du eins mit der Nagaika! Lauf, mein herrlicher Worana! Ich gebe dir auch Tabakrauch in das Näschen und Haferchen in die Krippe. Springe, mein Fuchs, du Seelchen, du feines Liebchen! Ich werde dich abtrocknen mit einem Tuch von Seide, und du darfst trinken vom besten Wässerchen im heiligen Rußland. Eilt, ihr drei Herrlichen, eilt! Ihr seid meine Kinder, meine Engel, meine Lieblinge!“
Dann wandte er sich zu mir.
„Brüderchen, siehst du dort die Gostinnitza? Du bist ein guter Herr, ein gnädiger Gebieter und wirst mich dort halten lassen, um einen kleinen Wodka zu trinken!“
„So halte! Auch ich steige aus.“
„Wirst du so lange warten, bis meine Pferde ein Gräschen oder ein Haferchen gefressen haben?“
„Ja.“
„Herr, du bist gut; ich liebe dich über alles, denn nun kann ich zwei oder drei Schnäpschen trinken statt nur einem!“
Man merkte dem Gasthaus an, daß man sich in der Nähe von Moskau befand, denn es hatte nicht das Dach auf dem Parterre, sondern war überbaut. Der Kutscher hielt an, und der Wirt kam herbeigesprungen. Er riß die Pelzmütze, welche er trotz der sommerlichen
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