33 Cent um ein Leben zu retten
gibt, dann muss doch jemand tun, was er getan hätte!«
»Ja.«
Und später: »Deine Lippen bluten.«
»Dann kommt Blut auf meine Worte.«
ICH HATTE SCHON ALLES
»Wenn es Gott nun nicht gibt.«
Hatte Anne gesagt.
Sie blieben hängen, Annes Worte, während ich Johnnys Kühlwagen das letzte Stück am Mittelmeer entlangfuhr. Niemand interessierte sich für uns. Keine Polizeifahrzeuge mit blinkendem Blaulicht und heulenden Sirenen. Keine Polizeihubschrauber. In aller Ruhe. Kilometer auf Kilometer. Spanische Burger, Apfelsinen und Mineralwasser.
Anne nahm ihr Handy aus dem Handschuhfach. Sie schaute es an, schaltete es nicht ein und ließ es wieder ins Fach fallen.
»Morgen ist Sonntag«, sagte Anne.
Ich wusste es genau. Ich hatte daran gedacht. Am Mittwoch waren wir losgefahren, und heute war Samstag.
»Und da sollst du konfirmiert werden.«
Das stimmte. Aber das wurde schwer, wir konnten es nicht schaffen, bis morgen zu Hause zu sein. Mit Glück schafften wir es bis Afrika. Vielleicht kamen wir nicht weiter als bis zur Fähre. Ich stellte mir vor, dass wir uns dort allen möglichen Hindernissen gegenübersehen würden. Musste man nicht bestimmte Papiere haben, um nach Afrika zu gelangen? Kam man einfach so auf die Fähre, um damit übers Meer zu fahren? Von meinem Studium der Reiseroute wusste ich, in welches Land wir kommen würden. Es hieß Marokko. Ein schöner Name.
»Was hast du dir gewünscht? Zur Konfirmation?«
»Geld«, sagte ich. Das sollte nach Afrika geschickt werden.
»Na ja«, sagte Anne. »Aber etwas musst du doch wohl auch selbst behalten?«
Mir fehlte doch nichts. Ich hatte alles, was ich brauchte. Ich war ziemlich reich, wenn man bedenkt, wie es anderen Kindern geht. Und außerdem hatte ich das Beste auf der ganzen Welt. Und dieses Beste hatte nur ich! Was das war?
»Ich habe schon das Beste auf der ganzen Welt!«, sagte ich.
Anne drehte mir ihr Gesicht zu. Sie zog die Augenbrauen hoch. Ich sollte es sagen. Sagen, was das Beste war.
»Das weißt du genau!«
»Sag es!«
»Dich!«
Anne lachte, und da spielte ich meinen Triumph aus und sang mein selbst komponiertes Liebeslied, was Melodie und Worte angeht, denn alles, was sich nur schwer oder unmöglich aussprechen lässt, kann man singen.
»Immer noch Frühling«, sagte Anne. Längs der Straße blühte alles.
Und ich sang, auch in meinem Herzen sei ein neuer Frühling. Sangen Vögel bei meinem Lied mit, bewegten sich an den Bäumen neue grüne Blätter im Herzenswind und im Takt mit meinem Lied? Und die Blumen?
Anne legte mir einen Finger auf die Lippen.
Dorthin, wo sie geblutet hatten.
Dorthin, wo wir so wild geküsst hatten!
Und ich sang weiter, denn ihr Finger löste neue Worte und Töne aus.
ALGERICAS
Schon ehe wir die Fähre erreichten, konnten wir Afrika sehen.
Übers Meer waren es 15 Kilometer. Das alles wusste ich. Das Meer war blau. Afrika war eine blaue Küste, ein dünner, vibrierender Küstenstreifen. Ich fuhr Johnnys Kühlwagen an die Seite, schaltete den Motor aus, und wir saßen ganz still. Nur die Kühlaggregate brummten.
»Dort«, sagte ich.
Dort waren keine Windmühlen, aber trotzdem dachte ich an Don Quijote, und vor lauter Anspannung biss ich mir auf die Lippe, so dass sie aufsprang. Anne sah es und legte mir einen Finger auf die Lippe: »Eine Menge Blut«, sagte sie.
Wir blieben lange so sitzen. Dann schielte ich zu Anne hinüber und sie zu mir, und ich startete Johnnys Kühlwagen und fuhr ruhig das letzte Stück hinunter zur Fähre von Algericas. Zur Linken lagen die Felsen von Gibraltar. Ich wusste, dass auf den Felsen Affen lebten, aber das spielte keine Rolle. Es ging um das Auto, um die Lebensmittel, um die Verhungernden, auch wenn es schon ziemlich verrückt war und nicht sonderlich viel helfen konnte.
Das alles ging mir wieder durch den Kopf. Und dann, nur ganz kurz, die Konfirmation morgen, Sonntag. Bei der ich in der Kirche hätte sitzen, singen und schließlich mit den anderen nach vorn zum Pfarrer gehen sollen.
Wir fuhren Richtung Fähre.
Wir wurden angehalten. Schon vor der Fähre und den Fahrkartenhäuschen wurden wir an die Seite gewinkt. Dort standen drei Polizisten. Sie schauten in unsere Papiere, blätterten, und der eine winkte uns weiter zu einer Haltebucht vor einem Haus, auf dessen Dach in mindestens fünf Sprachen Polizei stand. In Sekundenbruchteilen rauschten vor meinem inneren Auge alle Actionfilme vorbei, die ich im Fernsehen und im Kino gesehen hatte. Dort fuhr der Held
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