34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
überhaupt keine Ahnung, was stimmt und was nicht. Ich hab wirklich keine Ahnung, wohin mein Leben treibt, aber vielleicht kannst du mir ja helfen? Wenn du dich so für andere Leben interessierst…«
»Ich weiß doch gar nichts von dir«, sagte Ella und dachte in diesem Moment, dass sie auch keine weiteren Details von Natalias Leben erfahren wollte. Ob es sich reimte oder nicht, wollte sie nicht wissen, was mit Harry war oder wie auch immer er hieß, wollte sie nicht wissen, und was mit den Deals war, wollte sie auch nicht wissen. Sie wollte auch nicht ihre Freundin werden. Wie konnte sie nur denken, dass sie sich mit einer Frau anfreunden könnte, die auf neue Brüste sparte?
»Wer bin ich denn morgen?«, fragte Natalia.
Ella schwieg.
»Ich wollte dich nicht vergraulen, echt nicht. Ich komm mit den meisten Menschen nicht zurecht, weißt du, aber du, du bist irgendwie cool, und schon gestern dachte ich mir, wie abgefahren das wäre, wenn wir beide Freundinnen werden könnten. Lady Stanhope und Lady Gaga, oder so. Ich hab ja keine Freundin hier, ich arbeite die ganze Zeit, weil das alles so teuer ist. Da bleibt kaum noch Zeit für eine Freundin. Und du? Hast du eine Freundin, ich meine, eine echte, so eine, wie man sie früher hatte in der Schule?«
Ella zögerte eine Weile, sie hatte natürlich Freundinnen, einige sogar, aber eine echte, so eine wie früher? Sie schüttelte sachte den Kopf.
»Ich sing dir auch was vor, wenn ich wieder stehen kann.«
Ella hob den Kopf und musste lachen. Natalia und sie Freundinnen, echte Freundinnen, wie früher?
»Also: morgen. Wer bin ich morgen?«
»Also gut. Morgen bist du eine blitzgescheite New Yorkerin. Nicht Lady Gaga, das nicht, aber New York – immerhin. Du lebst in den zwanziger Jahren und heißt Dorothy Parker. Du schreibst Bücher und messerscharfe Kritiken, rauchst, säufst und vögelst dich quer durch die Intellektuellen- und Künstlerszene. Glücklich bist du dabei nicht, aber du lebst das Leben, als ob es kein Morgen gäbe.«
»Ich?«, fragte Natalia und schaute an sich herab.
»Du!«, sagte Ella und verabschiedete sich.
»Kannst du mir vielleicht noch deine Nummer dalassen?«
Ella zögerte.
»Keine Sorge, ich werde dich schon nicht andauernd anrufen«, sagte Natalia lachend.
»Wehe!«, sagte Ella, schrieb ihre Telefonnummer auf einen Zettel und legte ihn auf Natalias Nachttisch: »Jetzt muss ich aber wirklich los.«
»Als ob es kein Morgen gäbe«, sagte Natalia noch leise vor sich hin, während Ella die Tür hinter sich schloss.
Auf dem Weg nach Hause holte Ella ihr Telefon aus der Tasche, um Paul anzurufen. Sie schaute es eine Weile an, dann ließ sie es wieder sinken. Lange gemeinsame Nächte brauchten lange stille Morgen; außerdem fielen ihr jetzt doch ein, zwei Szenen der letzten Nacht ein, für die sie sich ein wenig schämte, weil sie sich da so gezeigt hatte, wie sie sich noch nie gezeigt hatte. Normalerweise hätte sie jetzt trotzdem angerufen, um die Scham zu zerstreuen oder warum auch immer. Aber mit Paul schien sie eine Person zu sein, die den Nachklang dieser Nacht nicht zerstören musste.
Zu Hause legte sie die neue CD von Nouvelle Vague auf und kramte den Stapel Fotos von Dorothy Parker heraus. Auf dem ersten Foto saß die junge Dorothy, aufregend schön, schmal und zurückhaltend in einem Kreis von nicht minder aufregenden Männern auf dem Boden. Es zeigte die Algonquin-Tafelrunde, illustre New Yorker Gestalten, in deren Mittelpunkt Dorothy thronte. Das Bild hatte eine Ausstrahlung, der Ella sich nicht entziehen konnte. Es war eines ihrer Lieblingsbilder von Dorothy, und jedes Mal, wenn sie es betrachtete, wollte sie mit ihr tauschen. Warum, hatte sie bis jetzt nie so richtig verstanden, doch nun begriff sie es: Es war die Diskrepanz zwischen Dorothys Körpersprache und der Haltung der sie umgebenden Männer. Wenn man sich nur Dorothy ansah, ohne die Männer genauer zu betrachten, hätte es auch das Bild einer jungen Frau sein können, die nicht genau wusste, wie sie sich gegen die geballte männliche Intellektualität zur Wehr setzen sollte. Doch blendete man die Männer ein, war das Gegenteil der Fall: Sie schienen alle in Bewegung sein zu müssen, um mit Dorothys scharfer Zunge mithalten zu können; diese Männer spiegelten neben der Regsamkeit auch den Witz und die geistige Kraft, für die Dorothy berühmt war. Sie konnte also einfach dasitzen mit ihrem seitlich gescheitelten Bob, dem Charlestonkleid und der langen
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